Die Klingelbilder oder eine ästhetische Erinnerungsspur

AUF DIE FÄHRTE LOCKEN ODER EINE ÄSTHETISCHE ERINNERUNGSSPUR

Die Klingelbilder von Ralph Bageritz

von Barbara Hofmann, 1994

Ein Zeichen sind wir, deutungslos

Schmerzlos sind wir und haben fast

Die Sprache in der Fremde verloren.

(Hölderlin, Mnemosyne)

Die Unübersichtlichkeit der Massenkultur, die in Phänomenen wie dem Überfluß und der Schnelllebigkeit der Warenwelt, der Reiz- und Bildüberflutung der Medien ihren Ausdruck – und in der Urbanität des modernen Großstadtgefüges ihren infrastrukturellen Nährboden findet, stellen für den modernen Menschen eine besondere Herausforderung dar, die Frage seiner historischen Identität – sofern sie sich ihm stellt – anzugehen. Der selektive Blick und die individuelle Zuordnung der Dinge und Erlebnisse für den eigenen Lebensraum bieten Chancen, den Begriff der Zeit zu personifizieren. Eine ästhetische Umsetzung liefert darüber hinaus die Möglichkeit zu einer weitläufigeren Verbindlichkeit.

In den 1993 entstandenen Werkbeispielen photographischer schwarz/weiß Arbeiten isoliert der in Köln lebende Künstler Ralph Bageritz ein Wiederholungsmuster, ein Ornament des städtischen Lebens aus seinem gewöhnlichen Erscheinungsbereich und auratisiert mittels ästhetischer Interpretation dessen scheinbar ausweglos anonymes Schicksal. In der seriellen Anordnung von Klingeln und den ihnen zugeordneten Namenschildern, wie man sie von Hoch- und Mietshäusern her kennt, entdeckt er die Abstraktion eines modernen Lebensgefühls, die formalisierte Reduktion einer Komplexität von existentiellen Fragestellungen nach Ansässigkeit, Identität, Schicksal und sozialem Umfeld, die er durch seine künstlerische Vorgehensweise zu interpretieren sucht.

Die Zivilisationskritik des ausgehenden 20. Jahrhunderts hat den Vorstellungen des aufgeklärten Bürgertums und den Utopien der Arbeiterbewegungen mit deren Idee eines sozialen Wohnungsbaus im Rahmen einer urbanen Heimat längst ein kritisches Psychogramm erstellt. Die Mietskasernen, die Vielzahl moderner Hochhausbauten und die Wohnhäuser mit Single-Appartments zeugen mehr von Vereinsamung als von der Möglichkeit zur Kommunikation und sozialer Gerechtigkeit. Das Persönliche verschwindet hinter einer Menge von Namenschildanordnungen und den dazu gehörenden Klingeln, die zum Kontaktmedium werden sollen, häufig jedoch lediglich dem Rost und der Witterung ausgesetzt sind. Belanglos scheint häufig die Existenz und die Ansässigkeit des Einzelnen in der städtischen Kultur, die vor allem durch Fluktuation bestimmt ist.

Als Fragment vergrößert und zum Bildgegenstand erhoben, erscheinen die Reihungen von meist runden Klingelknöpfen mit den parallel zugeordneten rechteckigen Namenschildern in den Photoarbeiten von Bageritz jedoch als formschöne Besonderheiten und werden so ihrer aktuell möglichen sozialen Last entledigt, ohne sie nicht gleichzeitig auch denkbar werden zu lassen. Hierzu trägt neben der graphischen Präzision die schwarz/weiß Ästhetik der Werkgruppe bei, die den Einzelbildern mehr eine historisierende Aura als anachronistische Trostlosigkeit verleiht. Vor einem dokumentarischen Anliegen erweist sich die Photographie als Komplize bei der Sicherung einer ästhetischen Spur, die in den Klingelknöpfen und den Namenschildern nicht den realen Gegenstand, sondern ein atmosphärisches Zeichen des modernen Großstadtlebens zu sichern weiß. Die braungetönten Balken – sie variieren je nach Serie farblich – die Bageritz den Namen überlagert hat, liefern die dahinter sich verbergenden Personen nicht gleichzeitig der Öffentlichkeit aus oder potenzieren das Problem der Anonymität, sondern gewähren Schutz und sichern wie die Mathematik, die nicht nur bloßes Zeichen zu sein braucht, das Geheimnis einer -großen Unbekannten-, mit der meistens nur Kinder in ihrem persönlichen Krimi Kontakt aufzunehmen wagen, um sich dann schnell davonzustehlen. Die sonst auch mögliche allegorische Lesart des -blockierten- Namens als Verweis auf eine psychische Konstitution des zu bezeichnenden Individuums ist zwar darüber hinaus eine sehr moderne und selbstverständlich auch realistische Lesart, sollte dem formalen Gefüge der Klingelbilder jedoch nicht zu bedrohlich werden.

Das moderne städtische Leben hat mit der Vision einer neuen Welt auch den Menschentyp des Flaneurs sozialisiert. Dieser bummelt durch die Straßen eines scheinbar demokratisierten Lenensraumes, in dem ihm die Mietshäuser, Stockwerkbauten und die Häuslichkeiten der freien Marktwirtschaft die Gleichberechtigung der Parzelle versprechen. Der Flaneur nutzt sein Persönlichkeitsrecht, welches ihm erlaubt, seine Wahrnehmung der Dinge zu einem historischen Moment, zu Spuren seiner Geschichte werden zu lassen oder sogar im Raum der Kunst zu auratisieren. Denn, das moderne städtische Leben hat vor allem den Künstler zum Flaneur werden lassen, der seine Sicht auf die Dinge zu formalisieren sucht. Seit der künstlerischen Avantgarde der Dadaisten und Surrealisten in den 20er und 30er Jahren hat diese Vorgehensweise Tradition und provoziert über sich hinausweisende Reflexionen, die Fundstücke und Aspekte des alltäglichen Lebens historisch bedeutsam zu nobilitieren vermögen.

Die Klingelbilder von Ralph Bageritz locken auf diese Fährte des Aktionsraums urbaner Spurensicherung und nähern sich mittels formaler Abstraktion, die im Gegenstand selbst entdeckt wird, dem komplexen Bereich sozialer Fragestellungen.

Barbara Hofmann, geb. 1963, Kunsthistorikerin, betreut als freie Kuratorin Ausstellungs-Projekte im Bereich der zeitgenössischen Kunst. Lebt und arbeitet in Köln