BARS UND BAGERITZ

von
HANS-WERNER BOTT
www.bar-real.de

Es scheint nur einen Grund zu geben,
eine Bar aufzusuchen und den besingen die Doors so:
„Oh, tell me the way to the next whiskey bar, don´t ask me why, don´t ask me why…“

Nimmt man diesen Grund, – also, es gibt eine Menge andere – so folgt, dass eine Bar als ein Ort des Unwirklichen beschrieben werden kann, der dieser Qualität wegen aufgesucht wird.
Die Bar ist also der Ort, an dem man sich in einen Zwischenzustand begibt – in den Gesellschaftsraum einer öffentlichen Möglichkeitsform tritt – erleichternd und erfrischend sollte das sein –
muss es aber nicht – klebrig, pappig, geht genau so. Ort des Unwirklichen: ich meine es als schwärmerische Definition – damit die Bar leichter als ein Übergangsobjekt zu sehen ist in einem Live-Lebens-Theater, in dem die Ideen der Boh
ème, von Dada, Hunger nach Wahnsinn, „Café Odeon“, „Dôme“, „La Coupole“ neu inszeniert werden. Aber langsam, was hat die Künstlerbar, nehmen wir einmal an, dass sich dieses Soziotop so ergeben hat, real gemacht:, wie konnte sie zum Wohnzimmer werden für Leute, die äußerst „displaced“ aus den 50iger und 60igern hervorgingen? Wie kommt es, dass ein gewaltiger Sog, sich umkehrt und Schwärme von Adepten unterschiedlichster Provenienz auf die Plattform Künstlerbar weht? Zum einen, banal: Die Deckelwirtschaft der Wirte garantierte zu jeder Zeit, dass Hunger und Durst gestillt wurden durch die Möglichkeit anzuschreiben. Dadurch hatten die Künstler, die Stars der täglichen Auftritte, die Gestalter zu jeder Zeit ihr Publikum.

Selbst der Martin Kippenberger ertrug diese Menge, auch die des „Broadways“¹ – winkte einmal auf dem Weg dorthin dem Bageritz zu und rief hinüber zur anderen Straßenseite: „Die Ehrenstraße gehört jetzt dir!“ Bageritz, mit einem Rest seiner frisch erschienenen Künstlerbuch-Kataloge unterm Arm, gerade von Walther König kommend, der natürlich nicht alle zum Verkauf nahm, steuerte rüber und legte ihm sein Buch am Tisch vor. „Das musst du direkt mal hier aufschreiben!“. Kippenberger schrieb, zeichnete und signierte – man blieb im Broadway beim Ramazotti zur Mittagszeit und schnupperte…. Das stundenlange Sitzen und Dröhnen im Tagescafé, da ließ sich was kondensieren, transformieren: die Begegnungen mit dem Pulk der Straße schienen durchaus etwas herzugeben. Solch Café mag schon Künstlerbar heißen, die Morgenausgabe sozusagen…

Abends kommen Auftritte, Musik, Lesungen, Gruppenbildungen dazu, Verabredungen von verfeindeten neidischen, herzlichen, zugeneigten kunstaffinen Schwärmen.
(Hoffentlich sind ein paar heute Abend hier, die das besser wissen!)
Natürlich konnte der Tag zur Nacht werden und es sind die betrunkenen Nachmittage mit zaubrischen Höhepunkten, die unvergesslich sind. In der Bar wird schon immer mit Legenden, Gerüchten gekocht, geklatscht, runter geputzt, verschworen, verschwiemelt – übrig bleibt das „Naked Lunch“ als Szenenbild. Die „Gaststätte“, die Kneipe, die Künstlerbar wurde, bildete in Lauflage einen Stamm heraus, einen Stamm der Gestaltlosen, der die Bar hielt und der zum Publikum taugte für die Helden dieser Geschichte, die Künstler, die Publikumsmagneten. Die Künstlerbar war ein Ort der kleinen Bühne für die einen, Asyl der Heimatlosen für die andern, der Ort, wo Glanz aufs Außenseitertum fiel.

Ein Ort der Projektionen:

Ich zehre vom „Star-Club“², obwohl ich nie drin war: Star-Club mit Hubert Fichte und Ian and The Zodiacs. Mit einem einsamen, fremden Jaecki und der Kneipe „Grünspan“ im Mittelpunkt. Das war endlich der Sound der Beatniks im deutschen Bildungsuntergrund. Mit Günter Grass kam der schon auf, Jazz und Lyrik, Joki-Freund-Sextett. Der Sound, der dann von Rolf-Dieter Brinkmann aufgenommen und weitergetragen wurde. Dann nachfolgend: neue Generation, neuer Verkaufsgedanke, alter Mythos. Bageritz hielt in seinem bereits erwähnten Künstlerbuchwälzer Brinkmanns These fest: „Kunst schreitet nicht fort, sie erweitert sich!“

Folgerichtig führt Bageritz 1985 an den Plakatwänden vor der Ruine des Star-Clubs die Kunstaktion „Cologne-Prost-I-Tut-es“ durch, angezogen eben vom Mythos, der Ausstrahlung dieses Clubs. Die Maler-Aktion währte Tag und Nacht, mit 300 Litern Bier aus Köln und „anschließendem Tanz im Chicago“ wie auf seinem obligatorischen Plakat zu lesen war.

Die Bars der 70iger und 80iger: in diesen Wohnzimmern ließ sich morgens mittags abends nachts leben, sie trugen das subkulturelle Leben, d.h.: es ließ sich dort prächtig auf das Eintreffen der Subkultur warten, „…26 Dollars in my hand.“ Lou Reed. Die Kraft eines Songs trieb die Leute in die Bar, wie ein Wirbelwind, als eine Art Spirale, die sich von unten nach oben drehte oder umgekehrt, das wusste man nie so genau. „…displaced people“ fanden eine Lebensplattform oder stürzten von ihr ab „displaced“ – das ist nicht unangebracht, – ja, Correctness hin oder her – denn das Gewicht das die Leute dazu machte, war nicht ohne: die Heimatlosen flohen aus den Schweige-Wohnzimmern und vor den faschistischen Nachbeben in den Institutionen auf die Straße im Hunger nach Freiraum:

„Exil on Mainstreet“ war angesagt: „I am a Roadrunner“ hieß die Hymne: …Untertitel: „Hunger nach Wahnsinn“. Die Kinder der Nazi-Geiseln verwandelten sich in nicht reifende Puppen, verharrten dort oder durchstießen spät die narzisstische Endlosschleife. Im Kokon der Kneipe. Der Dada-Box. Die Bars blieben mit Erwachsenen und Unerwachsenen durchsetzt. Manche waren typische Asylsuchende z.B. im legendären „Roxy“ – glücklich im „Roxy“…  Rudolf Bonvie hat sie photographisch festgehalten, eingebunden als kleines Büchlein zur Erinnerung an die Künstlerhelden dieser Zeit: Manni Löhe und Theo Lambertin, C.O. Päffgen und Charly Banana, Jürgen Klauke und Michael Buthe, Astrid Klein und Bonvie himself und noch einige mehr… . Argonauten als Live-Performance-Helden. Städter und Provinzler mischten sich in der Bar. Aliens und Hiesige, Stars und Tölpel und so weiter. Die Künstlerbar oder Künstlerkneipe besteht aus einem Teil wirklicher und zu einem andern Teil wirklich werdender Menschen, und zu einigen weiteren Teilen aus Geistern, Phantomen und Verworfenen: viele pappten bloß an der Wand, schlecht beleuchtet ohne selbst zu leuchten. In der Bar wimmelte es von Phantasmen. Viele ahnten die Vergangenheit, ihre eigene, bloß;
mehr war nicht.

Andere hatten goldenen Boden. Der Künstler Bageritz kannte seine Herkunft. Und erschuf sie noch dazu: Medienwirksam auf Tour unternahm er 1988 „Den Ausflug nach Bageritz mit Abstecher nach Baselitz“, wozu ihn eigentlich die Suche nach deutsch-deutschen Wurzeln und dem Exotischen der DDR-Fama trieb. Das er mit der Entdeckung der „Gaststätte Koid“ in Bageritz fand: Das Surreale in Gestalt eines Zettels mit Anweisungen fürs Knobeln im Koid, hinter Glas im Rahmen an die Wand gebracht. Möglich machte das die Öffnung der Mauer. Die Legende lautet: die Suche nach Arbeitsmaterial und die
Reflexion über Kunst und den Maler Georg Baselitz.

Das New Yorker Kunstmagazin ARTFORUM beschreibt die Bageritz´schen „INSTANT-HISTORY-PAINTINGS“³, die bei dieser Gelegenheit entstanden
und auf der ART COLOGNE 1989 einen Tag nach der Grenzöffnung für Furore sorgten.
Kippenberger kam vorbei, grinste und meinte „Durchbruch?“

Es ist interessant wie die Collagetechnik, die die hier ausgestellten Blätter und Re-Collagen auszeichnet, sozusagen das wirkliche Leben, eben die Reise nach Bageritz und darüber hinaus, umsetzt: doppelte Böden, das Hinterste nach vorne bringen, bestimmte Gesetze für das Sichtbar-Machen wahren, da noch ein Fenster ins Unbekannte öffnen… Und umgekehrt wurde die EHRENSTRASSE, samt Ausstellungsaktion⁴ im öffentlichen Raum, aus etwas Unbekanntem geholt, indem Bageritz ihren WELT-SOUND aufnahm. Über einen Zeitraum von einem Jahr standen Mikrophone im Atelierfenster des Künstlers. Die Aufnahmen fügte er zum scheinbaren Tagesablauf von frühmorgens bis spätabends zusammen, heute als CD-Edition, Titel „GRUNDGERAEUSCHE DER EHRENSTRASSE“ erhältlich. – Der Originalkneipensound vergegenwärtigt, was da in der Luft war, – das Kino war ja fast Teil des Café s – eine Qualität kommt auf, eine Vorstellung davon. Ein Staunen, das der Bageritz da schon etwas haltbar machen wollte. War er früh wirklich? Im Unterschied zu den „barflies“. Ja, selbst den barflies blieb der Sound im Ohr. Bekamen Wind davon…

Immerhin, die Künstlerbar, das Künstlercafé, entpuppt sich als der Ort, solche Erfahrungen zu machen. Angefangen mit den Überlegungen, welche Bar soll es heute sein, was treibt mich an, mich treibt doch was an, gerade das Kino treibt mit:
ah, es ist der innere Drang, aufgerafft, Initiative zu entwickeln, die richtigen Leute zu treffen, Kommunion mit dem Pulk zu üben, nicht allein mit Abbie Hoffmann, Alchemie und Castaneda, Joseph Beuys, Yves Klein, Paul Thek im stillen Kämmerlein und nicht wie einige andere in Keruacs „Tristessa“ oder Burroughs „Yage Letters einziehen, sondern losziehen, losziehen bspw. ins „Pink Champaign“ heut´ Nacht und vorher noch ins „Sixpack“, „Königswasser“ oder „Dos Equis“!
Die Bar, der Ort, wo Dr. Walter Serner sitzt und all die anderen edlen Alkohol-Brüter, nicht um Rechtsanliegen zu besprechen, sondern eher zackige Entzugsmethoden und um durch letzte Lockerungen auf neue Poetiken zu kommen. In der Gegenwelt surreal zu sein, in der Subkultur war die Bar der Ort, – Teil des Strahlenkranzes zu sein, wie in der Monstranz hier auf dem Plakat nachgezeichnet, in dieser Messe aus Lebendigen und Toten!: Surreal! Wie das „Koid“ im Ort Bageritz zu DDR–Zeiten und die „Gaststätte Bageritz“ dort ab 1991.

„THE LIVING AND THE DEAD“ steht auf dem Bageritz Plakat. Was den Blick auf alte Zeiten angeht, sei an dieser Stelle der Rückblick von Christoph Y Schmidt, Jahrgang 1956 auf seine Kneipenjahre empfohlen: „Der letzte Huelsenbeck“, gebunden bei Rowohlt! Eine harte Kur mit dem Cotard Syndrom und durch HSAM (Highly Superior Autobiographical Memory). Im Zusammenhang mit dieser Ausstellung nicht uninteressant, denn diese Neuerscheinung sollte Kultcharakter gewinnen und dann dem Ralph Bageritz als Vorlage dienen, er hat da ja mit Michel Houellebecq seine Erfahrungen gemacht.

Bageritz Arbeitsmethode – sich an dem zu bedienen, was wirklich geworden ist und dem „Gefundenen“ durch Zufall und Methode eine neue Wirklichkeit zuzuweisen, macht Entdeckerlust. Für mich ist es ein Vergnügen, Bageritz in diese doppelten Böden, die Neuen Böden zu folgen. Für diese Konstruktionsverfahren – und damit die Bageritz´sche Art der Kommunikation entstehen kann – braucht es zündende Ideen. So etwas wie der berühmte „Yve Klein´sche Sprung“ in Blau. Wie ist es mit dem poetischen Blitz im geistigen Tun und Werden? Mit dem poetischen Blitz in der Kneipe? Als umtriebiger Flaneur sucht Bageritz spezielle Bar-Cafés auf, um seinem Handwerk nachzugehen. Aktuelle Journale, vor allem Lifestyle-, Kunst und Modemagazine, dienen ihm als Labormaterial, um Vorlagen zu finden, gesteuert durch den Zufall und den schnellen Blick auf Verwertbarkeit.

Und Bageritz sieht da einen Zusammenhang mit den Fallenbildern von Daniel Spoerri, bei dem er u.a. studierte. Einschnitte in die Bildvorlage, herausklappen der Textinformation, Fixierung des Zufalls – sozusagen dem „Zufall eine Falle stellen“, wie Spoerri es formulierte. Ein Live-Gedicht im Bild, aus der Vorlage entstanden, teils mit mehr, teils mit weniger Respekt, immer aber mit Respekt vor der Arbeit, die verwurstet wird.

Das Bageritz Plakat für diese Ausstellung hat seinen Blitz, das Foto eines Chow-Chow, (Show-Show / Ciao-Ciao??) das Bageritz auf einer Miami-Beach Art-Fair 2017 schoss. Kommt der Einfluss des heiligen Kölns hier dazu, ein doppelter Boden, den der Lebensraum dem eigenen Schubladensystem einbaut? Dem entkommt man nicht, wenn man zu lange in dieser Stadt lebt. Irgendwann gehört es zur Eingemeindung dazu. Das macht, dass der Hund zur Mittelpunkt einer Monstranz wird und die Schriftzüge der hier teilnehmenden Künstlernamen zu ihrem Strahlenkranz.

Es gab eine Dauerbesetzung für Kneipeninventar, dem einfach keine Zeit für reale Geistestaten blieb, die gingen von der Bar direkt in die Frühschicht ins Stahlwerk und dachten, sie machen eine Live-Aufführung eines Live-Gedichts, durchaus bewusst, dass der Held einer Kinogeschichte niedere Arbeiten braucht, um besser raus zu kommen und das so die Poesie ins Leben käme…
Kollege Theo Lambertin gelang eine gute Arbeit aus seinem Arbeitsalltag in der Kneipe. Im EWG entstand eine unvergessene Fotoarbeit von ihm selbst als eine in der Vitrine liegende Figur, als Inventar. Ja, man konnte auf ein Mettbrötchen in der Vitrine deuten und das anschreiben lassen.

Die Bar verspricht großes Theater, das fängt bei den Wirten an, die Klasse versprechen: Die Wirte Clemens Böll im Chlodwig-Eck, Harry im Delirium, Horst Leichenich im EWG, Bernd Schmitz im Kurfürstenhof, Hatti im Hammersteins usw. Die alle waren einfach vielversprechend, Möglichkeitsspender.

Bars konnten Warteraum und Ereignisraum sein für die fantastischen Verschmelzungen, die sich ergeben würden etc., warten im elenden oder wunderbar aufgebrezelten Kneipeninterieur, man denke nur an das Gelb vom Podium und die edlen Säulen beim Sing. Kapielski hasste das Chin´s, ich glaube, weil er da nix in die Tische ritzen konnte. Chris Newman und Al Hansen fanden ihren „High Noon“ im Chin´s. Die bemalte Wand von Max Ernst, (heute im Museum) verweist mit Nichts auf die Energiefelder hin, die vor ihr barsten. Dass die Bar Startbahn ist, Unruheherd, von dem Taten in der Luft liegen, wird sich von Fall zu Fall überraschend ereignen.

Zwischen Dada-Schwärmen in Zürich, Paris und Berlin. Surrealisten-Clubs. Schriftsteller-Pulks im „La Coupole“. Den Bühnen in den Bars von Köln. In den Künstlerbars trafen sich Schwärme mit Zusammenhalt und Gegnerschaft, ein- und ausgrenzende Cliquen. Die, die hier den Strahlenkranz um den Chow-Chow bilden, waren sicher nicht alle irgendwie zugehörig, ganz sicher gehörten sie aber zum Geflecht um Ralph Bageritz

Kramen Sie in Ihrem Gedächtnis: wenn es richtig gut war, war es mit ein bisschen Erinnerung an den Moment vor dem Blackout : dann war es wie in Circes Zauberschüssel.

© Hans-Werner Bott / Eröffnungsrede zum Ausstellungsprojekt ARTIST´z PUB INTERNATIONAL No.7 / anlässlich der PHOTOKINA/FESTIVAL PHOTOSZENE KÖLN / 25.09.2018

¹) Vormals, bis in die 70er Jahre, ehemaliges Kino für Filme des Genres Kung-Fu-, Western- und (Soft)-Porno im ehemaligen Rotlicht Milieugebiet Ehrenstraße. Anfang der 80er Jahre Umwandlung zum Programm-Kino mit angeschlossenem Café unter dem Namen „Broadway“. Aufgrund des internationalen Renommees der Kunststadt Köln bis in die 90er, entstand mittendrin im „zirkulierenden kulturellen Kapital dieser Stadt, im Dreieck zwischen den Buchhandlungen Bittner, König und eben dem Café Broadway…“, (so Helge Malchow im Kölner-Stadtanzeiger) „…ein Künstlertreffpunkt internationaler Couleur.“
²) Der „Star-Club“ war ein Musikclub im Hamburger Stadtteil St. Pauli, der am 13. April 1962 eröffnet und am 31. Dezember 1969 geschlossen wurde. Bekannt wurde der Club in der „Große Freiheit 39“ vor allem durch die Auftritte der Beatles, aber auch anderer bekannter Künstler.
³) Basierend auf den 1988 umfangreich entstandenen DDR-Photodokumenten manifestiert sich der Zyklus der „INSTANT HISTORY PAINTINGS“ (Norbert Messler / Rezension/Titel: „EAST-WEST-SIDE-STORY“ / Magazin ARTFORUM / Nr.10 / New York / 1990). Die Galerie Ernesto + Krips zeigte die Photo-/ Malereiarbeiten sowohl im Sommer 1989, als auch zur ART COLOGNE in der „Förderkoje für junge Kunst“. Da der Kunstmarkt am 10. November, also nur einen Tag nach dem „Mauerfall“ (am 9. November) eröffnet wurde, avancierten die Bageritz-Werke zur zeitgeschichtlich aktuellsten Künstlerposition während der gesamten internationalen Kunstmesse ART COLOGNE ´89.
⁴) BAGERITZ: 11 JAHRE EHRENSTRASSE & UMGEBUNG / Das Mitteilungsbeduerfnis des Herrn Ralph Benno Albert Bageritz / incl. Special Guests: COLLEGEN IN BOUTIQUEN (mit Berit Böhm / Eun-Jung Choi / Leiko Ikemura / Frances Scholz / Walter Dahn / Georg Dokoupil / Tobias Gerber / Joseph Kosuth, Wolfgang Zurborn u.a.) Ausstellungs- & Künstlerbuch-Projekt / in Kooperation mit dem Kölnischen Stadtmuseum und den Ladenbesitzern der EHRENSTRASSE die ihre Schaufenster und Innenräume zur Verfügung stellten z.B. Buchhandlung WALTHER KÖNIG & öffentlicher Raum / Köln / 1995

ARTIST´z PUB INTERNATIONAL – DAS PHAENOMEN KUENSTLER-BAR

von
FERNAND VAN SELLEFS

Noch zur Zeit des real existierenden Sozialismus – im Jahre 1988 – bereist Ralph Bageritz „… als subkultureller West-Künstler die Deutsche Demokratische Republik.“ Norbert Messler rezensiert im US-amerikanischen Kunstmagazin ARTFORUM: „…(Bageritz) verbindet auf seiner Reise individuelle, private Ebenen mit politisch-gesellschaftlichen. Innere Reflexion und offene Aktion beleuchten kunst- und kulturgeschichtliche Zusammenhänge, schmücken sie aus mit zeit- und gesellschaftlichen Faktoren, mit Strukturen des Marktes, der Werbung, der Unterhaltung, der Kunst.“ („East/West Side Story – Bageritz´ Instant-History-Paintings“, New York, 1990).

Während seiner Kunstaktions-Reise durch die sogenannte „Ostzone“, betitelt als DER AUSFLUG NACH BAGERITZ MIT ABSTECHER NACH BASELITZ trifft der umtriebige Künstler im gleichnamigen Ort BAGERITZ auf ein Originalrelikt – die DDR-Gaststätte KOID (in der dörflichen Umgangssprache auch scherzhaft „Koidus“ genannt).

Die aus zwei Perspektiven abphotographierte Außenfront des kurz nach der Wende in „Gaststätte Bageritz“ umbenannten Getränkeausschanks lässt der Künstler in einer Bildmontage zu einer Parallelansicht verschmelzen und schafft so den eigenen fiktiven Ort: BAGERITZ & BAGERITZ, zwei gegenüberliegende Pole einer doppelbödigen Fake-Realität (ähnlich dem später entstandenen Konzept der doppelten Paris-Bar in der Kantstraße, Berlin).

Die erste bildnerische Umsetzung dieser RAUMIDEE zeigt ein netzartiges, verknotetes Geflecht aus farbigen Silikonfäden, ein Medaillen-/ Punktesystem aus drappierten DDR-Aluminium-Münzen, das abschirmende Plexiglas mit darunter liegender Farbphotographie überlagernd. (Abbildungen hierzu in „Kunst und Geld / Eine Bilanz zum Jahrtausendwechsel“, von Jürgen Raap, Magazin „Kunstforum International“, Bd. 149, 2000, sowie „Live-Shot-Museum: Zone Bageritz inklusiv Wahrheit & Wahrheit – als Privatflug von Mitte auf Auge“, 6-teilige Collage, Sammlung Heinrich Mies, Katalog Museum Ludwig, Köln, S. 53 – S. 59, 2000).

Im Jahr 2011 stößt Bageritz durch Zufall auf eine automatisch generierte Internet-Information, seinen Buch-Verleger betreffend, den Kunstsammler und Antiquar Constantin Post. („Bageritz – 11 Jahre Ehrenstraße & Umgebung“, Hrsg. Stadtmuseum Köln / Verlag Constantin Post, fast 400 Seiten, durchweg farbig, 1995).
Unter der Headline „Artist´s Pub“ manifestiert sich hier eine Riege namhafter Künstler, die Constantin Post seit den frühen 70er Jahren durch die Publikation exquisiter Editionen, Künstlerbücher und anderer Veröffentlichungen unterstützt und gefördert hat. Ein Computerausdruck dieses gefundenen Dokuments dient Bageritz infolge als Material für eine seiner China-Bild-Collagen: AM ANFANG WAR DIEBSTAHL (Theorie & Praxis), Massenprodukt eines anonymen chinesischen Malers: Zhang Xiaogang-Kopie, Transparentfolie, Digitalprint, Silikon, Öl auf Leinwand, 60 x 70 cm, 2012.

Den altgedienten Geist der klassischen Künstlerkneipe beschwört Bageritz herauf und erschafft – eben in Theorie & Praxis – ein Monument voller Erinnerungen, an so klangvolle Namen wie die „La Paloma Bar“ in Hamburg (mitsamt der eigenen, im Jahr 1985 durchgeführten Aktion COLOGNE-PROST-i-TUT-ES in und vor der Ruine des „Star-Club“ auf der Großen Freiheit) und eben der schon erwähnten legendären „Paris-Bar“ oder der so vielen anderen Orte im Köln der wilden 80er/90er Jahre. Exemplarisch das „Café-/Hotel Central“, das „Chin´s“, „EWG“, „Hammerstein´s“, „Königswasser“, „Pink Champaigne“, „Six-Pack“ und wie sie sonst noch hießen – allen voran aber das „Café Broadway“, nebst Kino in der Ehrenstraße. Hier zirkulierte „mehr kulturelles Kapital als irgendwo anders in der Stadt.“ Das Haus sei ein „geistiger und kultureller Knotenpunkt“, in jenem „Dreieck zwischen den Buchhandlungen Bittner und König“, so Helge Malchow, Verleger bei Kiepenheuer & Witsch, Kölner-Stadtanzeiger, 2001.

Innerhalb der bereits durchgeführten Multimedia-Installationen, beispielsweise im „Palais für aktuelle Kunst“ (Kunstverein Glückstadt bei Hamburg), bewegte sich der Ausstellungsbesucher durch einen Parcours von sieben mit Bageritz-Slogans bedruckten Liegestühlen (aus der Serie PRAKTISCHE SKULPTUREN ZUM WEGSTELLEN<), drei sich farblich verändernden Party-Beleuchtungskugeln mit der Aufschrift SIEG/SATT/SENSE sowie den „Grundgeräuschen der Ehrenstraße“ – der CD mit Booklet inklusiv s/w-Photoshot von hinten: Benjamin Katz, der Photokünstler und Nachbar aus der Ehrenstraße. Kakophonisch dazu der Originalklang der weltweiten Künstler-Anrufbeantworter-Aktion „THE NAME-DROPPING-NUMBER“, den „BAGGERHIT´s (der 90er)“ plus Wiedergutmachungs-Musik als „SOUNDS OF REPARATION feat. Jane Birkin (der frühen!) in 45 revolutions per minute“ sowie dem Video via YouTube: „THE MAGIC MOMENT“, unterlegt mit dem „Chinese Blues“ von George Gershwin aus dem Jahr 1916, anläßlich der Plakat-Aktion „SHOW ME THE WAY TO AI WEIWEI“, Shanghai, 2011).

Und Bilder über Bilder – integriert in einem Konstrukt des Künstlers, einem Umschlagplatz seines eigenen Kosmos, einem Remix aus vorangegangenen und aktuellen Arbeiten. Bageritz nimmt Bezug auf diverse Langzeit-Serien wie seinen STOLEN OBJECTS, DAS PRINZIP WIEDERGUTMACHUNG oder die RE-COLLAGEN (Schnittbilder, die hintergründiges nach außen transportieren – im wahrsten Sinne – und das Ganze in einem Verfahren des re- & upcyclings als Gedicht resp. neue Ikone entlassen). Wandüberspannend die 2015er-Variante des „ARTIST´s PUB Bageritz & Bageritz“, vergrößert als 3×4 Meter Photoprint und Basis für eine Petersburger Salonhängung. Denn alles gehört bei Ralph Bageritz („Ich bin die Idee der Idee“) zusammen, ist dicht verwoben, korrespondiert, kommuniziert – und der Rezipient als GAST IN DER KÜNSTLER-BAR befindet sich mittendrin in einem Wald der Kunstzitate für Kenner und die, die es werden wollen. Tracey Emin trifft hier auf Helene Hegemann, Yoko Ono auf Louise Bourgeois, Al Hansen auf Martin Kippenberger, Richard Prince auf Andy Warhol, Michel Houellbecq auf Kriwet, Cosima von Bonin auf DJ Koze, Georg Baselitz auf Bageritz, usw. usf. …

© Fernand van Sellefs / Phantomkünstler & Analyst/ Rotterdam – Berlin / 2015

IN MEMORIAM AL HANSEN

(*5. Oktober 1927 – †22. Juni 1995)

DIE KUNSTSTADT KÖLN UM 1980 & DIE FRÜHE ZEIT DANACH
Eine ziemlich persönliche Erinnerung an den Fluxus & Happening-Künstler AL (Alfred Earl) HANSEN –

von
RALPH BAGERITZ

HEY AL, WHAT´s GOING ON? –

Mal so oder so lautete unser Begrüßungsritual, wenn man sich traf, meist zufällig, zur richtigen Zeit am richtigen Ort – im Nachhinein betrachtet – auf den „Hauptweg- und Nebenwege(n)“¹ der damals boomenden rheinischen Kunstmetropole Köln, gleichbedeutend mit der Kunstszene New Yorks (Anfang bis Ende der 80er Jahre), in den speziellen Lokalitäten des Kunstbetriebs – und darüber hinaus. Al(ien) Hansen war aus meiner Sicht urplötzlich da, 1983, in der traditionsreichen heiligen Stadt, die ja bereits in den 60er/70er Jahren kunst-/markttechnische Bedeutung erlangt hatte:

1.Kölner Kunstmarkt im Gürzenich ´67 / Ingo Kümmels „Neumarkt der Künste“ ´68 / Gründung der internationalen Kunstmesse Art Cologne ´74.
Meine erste Begegnung mit dem SPIRIT OF AL HANSEN fand allerdings indirekt, 1982, im mittlerweile berühmten Seminar von Daniel Spoerri statt, des Objekt-  und Fallenbildkünstlers selbstironisch betitelter „Kunstgeschichte aus dem Nähkästchen“, in direkter Verwertung eines kritischen O-Tons von Marlis Grüterich, Kunsthistorikerin an den Kölner Werkschulen resp. der Kunsthochschule am Ubierring.

Daniel Spoerri, Mitbegründer der Künstlergruppierung „Nouveau Réalisme“², Multi-Media-Skulpteur der ersten Stunde, vor allem aber versierter kunst- und künstlerkennender Zeitzeuge und somit prädestiniert fürs authentische Storytelling, fachresümierte ans studentische Publikum. So eben auch, unter vielen anderen wegweisend legendären Kunstereignissen, über die des New Yorker Künstlers Al Hansen, der 1946 als amerikanischer Besatzungssoldat während seiner Stationierung in Frankfurt in einer für mich genialen After-World-War-II-Aktion das wohl erste „Happening“ durchführte, indem er mitten in der Nacht ein Klavier aus einem ausgebombten fünfstöckigen Haus fallen ließ…

Zurück in New York und nach diversen Wiederholungsaufführungen, benannt nun nach seiner damaligen Freundin, der Künstlerin Yoko Ono, „Yoko-Ono-Piano-Drop“, gilt diese Aktion als konzeptioneller Vorläufer sogenannter „Instrument-Zerstörungen“, so wie bei Nam June Paik und später u. a., bei Jimi Hendrix. Der frühe Bezug zur amerikanischen Fluxus-Bewegung, den Kontakten zu Künstlern wie John Cage, George Brecht, Dick Higgins, Allan Kaprow, Andy Warhols Factory sowie nachfolgende Mixed-Media-Environments lassen ihn zu den Pionieren der „Performance Art“ und des „Happenings“ zählen.

Zu Beginn der 60er Jahre entstehen seine ersten HERSHEY´S-Bildobjekte, zumeist Venus-Motive in Nachempfindung der prähistorischen „Venus von Willendorf“, collagiert aus dem Verpackungsmaterial des US-Schokoladenriegel-Klassikers.

1984 dann Hansens fulminanter Auftritt in Ingo Kümmels Graffiti-Kunsttempel „Stollwerck“, einer ehemaligen Schokoladenfabrik! – Kulminationsort für junge Kunst in der Kölner Südstadt. In eigener Reminiszenz und Empfehlung an die rheinische Szene warf er fünf Klaviere aus dem vierten Stock des Fabrikgebäudes – eine radikale ästhetische Crash-Sound-Symphonie zerberstenden Hochkultur-Materials im Zusammenspiel mit improvisierten freejazz-artigen, beinahe beschwichtigenden Saxophonklängen seiner Kunst-Partnerin Lisa Cieslik.

Al Hansens Anspruch war es immer schon gewesen, entsprechend seiner früheren Lehrtätigkeit an diversen Schulen, z.B. der Rutgers University in New Jersey, der Eskimo Art School in Grönland oder dem Pratt Institute in N.Y., sein Wissen, seinen „Geist“ an andere weiterzugeben. So war es folgerichtig im Jahr 1987, zusammen mit der Autodidaktin Lisa Cieslik eine „ultimative“ Ausbildungsinstitution für Performancekunst resp. „passionate free thinking“, so wie Al es mal nannte, zu gründen, in Köln, der Mozartstraße 60, in Perfektion just zu seinem 60igsten Geburtstag.

Lisa Cieslik, die in den Jahren zuvor erste Erfahrungen mit dem Medium der experimentellen Aktionskunst innerhalb der Gruppe „Minus Delta T“ um Mike Hentz und Karel Dudesek gesammelt hatte, führte nun als Performancekünstlerin und selbsternannte „Konsum-Realistin“ gemeinsam mit Al Hansen bis zu seinem Tod 1995, Aktionen und Ausstellungsprojekte durch. Spektakulär die Aufführung des Duos Hansen/Cieslik im öffentlichen Raum mit der Simulierung eines Attentats: „Wer erschoss Andy Warhol?“ vor dem Schaufenster der Kölner „Edition und Galerie Hundertmark“ 1986.

Zur gleichen Zeit, ab 1983, realisierte ich in der Kölner Innenstadt, an NICHT FÜR KUNST GEDACHTE(N) ORTEN meine ersten Performances, Ausstellungen und Plakat-Aktionen unter dem programmatischen Titel: STADT-RAUM-BILD/ DEUTSCHLANDS LIEBLING IST MUEDE. Hierzu zählten überwiegend leerstehende Ladenlokale in „guter Lage“, aber auch ein florierender Sex-Shop, ein 4-stöckiges Treppenhaus (l´esprit de l´escalier) inklusive der Privaträume eines Hausbewohners (+ Ingo Kümmel als Redner), das Schaufenster der Buchhandlung Walther König oder mein Atelier in der Ehrenstraße 23, in das ich entsprechend 23 Künstler einlud – (heute würde man den Begriff „kuratieren“ verwenden).

Die EHRENSTRASSE in Köln, bis in die 70er Jahre Rotlichtmilieugebiet, bei meinem Einzug ´84 noch im subkulturellen Underground-Swing, aktuell eine der Hauptgeschäftsstraßen der gehobenen Mittelklasse, entwickelte sich für mich zum zentralen Ausgangspunkt meiner künstlerischen Umtriebe, mittendrin im „zirkulierenden kulturellen Kapital dieser Stadt, im Dreieck zwischen den Buchhandlungen Bittner, König und dem Café Broadway“, so Helge Malchow im Kölner Stadt-Anzeiger – und nicht zu vergessen, ein paar Häuser weiter: mein sehr geschätzter Nachbar, der Photograph Benjamin Katz.

Künstler internationaler Couleur traf man hier. Aber auch hiesige Vertreter wie Sigmar Polke (oft im Café Fromme) oder Martin Kippenberger (der mir zurief: „Die Ehrenstraße gehört jetzt dir!“ als ich mit meinen frisch gedruckten EHRENSTRASSE-Katalogen³ unterm Arm, von König kommend, ihm ebenda über den Weg lief) und Albert Oehlen, A.R. Penck, Karl Marx (der eloquente Analytiker), Astrid Klein und ab und zu Leiko Ikemura, um nur einige wenige zu nennen.

Da mir zu dieser Zeit das Kulturamt der Stadt ein leerstehendes Gebäude mit Nebenräumen in direkter Nähe der Ehrenstraße mietfrei zur Verfügung stellte, war die Umfunktionierung dieses ehemaligen Bordellgebäudes klar: Zusätzlicher Arbeitsraum, Lager & Showroom für Ausstellungen und Performances in der Kleinen Brinkgasse Nr. 8.

1988 wurde die Idee zu einer Kombinationsausstellung an zwei verschiedenen Orten zum selbigen Eröffnungstermin, der „ULTIMATE ACADEMY“ von Al Hansen & Lisa Cieslik und dem „Bageritz-Buero fuer Oeffentlichkeits-Arbeit“ unter dem (Plakat) -Titel „PARALLEL“ umgesetzt. Highlight der Aktion hierbei die Performance „Jedem seine Fahne“ von Lisa Cieslik als „Queen of Russia“, vorab angekündigt im Autokorso mit flatterndem Ausstellungsobjekt und Flyern. In den Räumen eine wandumfassende „Endkonsum“-Installation in Korrespondenz mit den Venus-Collagen von Al Hansen, den TV-Objekten von Hans-Jörg Tauchert sowie den PRAKTISCHEN SKULPTUREN ZUM WEGSTELLEN aus meiner eigenen Produktion, etc..

Ansonsten war Hochkonjunktur angesagt. Die Schweizer Galerie Fabian Walter zeigte meine Photo/Malerei-Collagen und die neuesten STOLEN OBJECTS in einer Einzelausstellung mit dem Titel DIE POETISCHE LUECKE – KLEINE SELBSTZENSUR inklusive Messepräsenz auf der Art Basel ´91. Der grandiose Eröffnungsabend bleibt unvergessen, denn unter den illustren Gästen befanden sich zu meiner großen Freude die Künstler Charlemagne Palestine, Hans-Hermann T und Al Hansen die mir in performanceartiger Manier ein kurz zuvor von ihnen entwendetes wunderbares Objekt überreichten: Ein ausgedientes Patina verschöntes Emaille-Werbeschild mit eingebautem Thermometer im 50er Jahre-Design. Darauf abgebildet das sogenannte „Libella-Mädchen“ mit Pferdeschwanz und wehendem Petticoat eine überdimensional große braune „Rillenflasche“ umklammernd, untertitelt mit dem Slogan: „Libella … meine große Liebe!“

Im Anschluss signierten die Künstler frontseitig zu dritt, und Al schrieb dazu: „This is a Stolen Object! Naughty Naughty Naughty!“⁴

Die von mir bereits ab 1973 in Sammel- und Kunstleidenschaft erdachte und ausgeführte Serie der Stolen Objects (an eine Präsentation in der Öffentlichkeit war damals noch nicht zu denken!), mit dem Untertitel DIE AUFRICHTIGKEIT DES KUENSTLERS AM ENDE DES 20. JAHRHUNDERTS erfuhr mittlerweile einige Beachtung. Ausstellungen und Presseveröffentlichungen auf Skandalebene häuften sich und ab 1993 lag ich im postalischen und medieninvolvierten Künstler-Clinch mit Timm Ulrichs, der notorisch sein Urheberrecht auf „gestohlene Objekte“ einforderte und bereits Andy Warhol und einige andere Künstler des Diebstahls seiner Ideen beschuldigt hatte („art“-Magazin, „Bestohlener Dieb“ v. Dr. Martin Tschechne, 2/93). So schrieb ich ihm zurück, unter der Rubrik „Leserbriefe“ in der „Kunstzeitung“ von Lindinger+Schmid: „Läge es nicht im Sinn der Sache (konzeptuell), die Idee der Stolen Objects wiederum zu stehlen? Und handelt es sich in der Konsequenz bei meinen gestohlen Objekten nicht sogar um die einzigen WAHREN Stolen Objects? (…).“

Eine konkrete Antwort fehlt mir bis heute, aber unsere Fährten sollten sich noch einmal kreuzen – auf versöhnliche Art, 13 Jahre später, anlässlich unserer Beteiligung an der Group Show „Der gestohlene Blick“, einer Sonderschau des Art-Loss-Registers zur Kunstmesse „Cologne Fine Art“, kuratiert von Prof. Dr. Ulli Seegers.

Zurück in der Ehrenstraße traf ich mal wieder auf Al Hansen und er raunte mir zu in seinem markantem New-York-Slang: „Your work ist not about stealing – it´s about healing!“ Das war das Eigene unserer Begegnungen – unvermittelte Treffen in unkomplizierter Klarheit, schnörkellos auf den wirklichen Wegen – real Real.

Und auf Um-Wegen über Österreich (Galerie Ferdinand Maier) gelangte ein weiteres Werk von Al Hansen in meinen Besitz: Eine sehr typische üppige „Venus“, sorgfältig mit allen erotischen Details ausgestattet, fein in Kontur und Form in Handarbeit „gerissen“, zur Hälfte aus goldenem und silbernem Schokoladenpapier bestehend, kaschiert auf weißem und grauem Karton. Schau ich mir dieses Werk an, erinnere ich Al im Chin´s Restaurant sitzend, dem seinerzeit angesagten Szenelokal, in der ruhigen Nachmittagszeit, die verglaste Wand zur Straße mit Eingangstür im Blickfeld, entspannt konzentriert am Tisch mit vor ihm ausgebreitetem Material: Unterlagen aus Karton, angebrannte Zündhölzer und Zigarettenpapiere, ausgedrückte Zigarettenstummel mit und ohne Filter, verschiedenste Papier- und Foliensorten, Klebstoff.

In „Monopol“, dem zeitgenössischen „Magazin für Kunst und Leben“ gibt es seit einigen Jahren einen seriellen Beitrag mit dem Titel „Mit wem schlafen Sie, …?“ Gemeint ist natürlich das Kunstwerk das über dem jeweiligen Bett des Betreffenden hängt. Bei mir ist es tatsächlich eine kleine Ansammlung, aber rechts oben hängt die besagte Venus. Und ich denke mir immer mal wieder: „Hey Al, what´s going on?“

© Ralph Bageritz aka The b-AGE-ritz / Berlin-Köln / im Februar 2020

¹) „Hauptweg und Nebenwege“ ist eines der bekanntesten Gemälde von Paul Klee. Es gehört zur Gruppe seiner zahlreichen Lagen- und Streifenbilder und entstand im Januar 1929 nach Klees zweiter Ägyptenreise. Als Leihgabe von Werner Vowinckel wurde es zunächst im Kölner Wallraf-Richartz-Museum gezeigt und ist heute im Museum Ludwig zu sehen.

²) „Die Künstlergruppe der Nouveaux Réalistes hat mit einem künstlerischen Realismus im traditionellen Sinne nicht das Geringste zu tun. Es geht ihnen in ihren Werken, von denen die ersten in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts entstehen, nicht um eine realistische Abbildwirklichkeit, sondern der materielle Stoff der Welt, die Dinge des Alltags, die „Realien“, werden ihnen zum Medium ihrer Kunst. Der neue Realismus, das ist das reine Pigment in den „Monochromen“ von Yves Klein, alter Autoschrott in den „Kompressionen“ von César, der Inhalt von Mülltonen in den „Poubelles“ von Arman, die Überreste von Speisen in den „Fallenbildern“ von Daniel Spoerri, die „Plakatabrisse“ der Affichisten Raymond Hains, François Dufrêne, Jacques Villeglé und Mimmo Rotella…“, ( aus „Nouveau Réalisme – Revolution des Alltäglichen“ von Michael Stoeber, KUNSTFORUM international, Bd. 189, 2008)

³) Katalog und Künstlerbuch „Das Mitteilungsbeduerfnis des Herrn BAGERITZ – 11 Jahre Ehrenstraße & Umgebung“, (Inkl. Special Guests / Kollegen in Boutiquen: Rudolf Bonvie, Jiri Georg Dokoupil, Leiko Ikemura, Joseph Kosuth), Hrsg. Kölnisches Stadt-Museum, Verlag Constantin Post 1995

(Die Audio-CD „The Home Grown Show – Grundgeraeusche der Ehrenstraße“ erschien als Multiple begleitend zur Ausstellungs-Aktion in einer Auflage von 111 Exemplaren.)

⁴) Abbildung des „geschenkten“ Stolen Objects im o.g. Katalog/Künstlerbuch, Nr. 135, Seite 303, 1995. 1991 integriert in die Gesamtserie des Künstlers (Objekt im Holzkasten, Acrylfarbe auf Plexiglas)

DER GESTOHLENE BLICK – KÜNSTLER THEMATISIEREN KUNSTDIEBSTAHL

Sonderschau des ART LOSS REGISTERS / EXPONATEC und Kunstmesse FINE-ART-COLOGNE / Köln 14.-18.02.2006
Kuratorin / konzeptueller Text

von
ULLI SEEGERS

Kunst und Kunstdiebstahl – eine Verbindung, die in Zeiten der Konjunktur des Kunstmarktes bei gleichzeitigem Ansteigen von Kunstkriminalität wie die zwei Seiten einer Medaille anmutet. Tatsächlich ist der Schaden durch sich immer dreister gebärdende und häufig organisiert agierende Kunsträuber mittlerweile an einen der vorderen Ränge eines traurigen “Rankings“ gerückt: Kunstdiebstahl steht nach Drogenhandel und Waffenschmuggel bereits an dritter Stelle internationaler Verbrechen. Mit über 50% werden private Sammler zu Opfern von Kunstkriminellen, gefolgt von Museen, Kirchen und anderen öffentlichen Einrichtungen. Selten sind es die Künstler selbst, die einen Diebstahl zu vermelden hätten. Und dennoch ist das Phänomen des Kunstraubs ein Thema, mit dem sich seit dem 20. Jahrhundert gerade Künstler auseinandergesetzt haben. So ließ sich auch Marcel Duchamp bei seiner ironischen Darstellung der Mona Lisa mit Schnurrbart (1919) von dem sich 1911 ereigneten Raub des Meisterwerks aus dem Louvre inspirieren. Verbergen, Erscheinen und Enthüllen zählen zu den ästhetischen Phänomenen, die Künstler seit jeher in den Bann geschlagen haben. Doch während die Präsenz und Absenz von Kunstwerken, ihr Verbergen und feierliches Enthüllen zu den kunsthistorisch tradierten Umgangsformen mit Werken der Kunst im Kontext religiöser Riten oder gesellschaftlicher Konventionen zählen, ist der Kunstdiebstahl aufgrund des Bruches von Tabus oder Normen von besonderer Brisanz. Es ist dabei nicht nur der materielle Wert, dessen sich der Räuber durch eine Straftat befleißigt, sondern immer auch ein unersetzbarer ideeller Wert, der durch einen Akt profaner Willkür kulturloser Raffgier zum Opfer fällt.

Doch was, wenn der Diebstahl bzw. Verlust von Kunstwerken zum Thema der Kunst wird? Wenn also Kultur und „Kulturlosigkeit“ im Medium der Kunst nicht opponieren, sondern – vice versa – zusammenfallen?
Wie gehen Künstler mit dem Thema Kunstdiebstahl um?

Die Ausstellung versammelt zeitgenössische Positionen der Kunst, die sich auf völlig unterschiedliche Art mit Kunstraub auseinandersetzen. Die präsentierten Werke zeigen nicht nur verschiedene Perspektiven auf die unliebsame Schattenseite des Kunstmarktes, sondern dokumentieren auch ungeahnte Hintergründe von Kunstdiebstahl im weiteren Sinne.

So macht der Kölner Ralph Bageritz Abbildungen von gestohlener Kunst zum Ausgangspunkt für seine eigenen photographischen Arbeiten. Mittels 2-phasiger Lentikular-Technik (Linsenraster auf Lambda C-Print) entsteht ein „Wechselbild“-Effekt, der mit den Bewegungen des Betrachters die abgebildeten Werke tatsächlich stetig zum Erscheinen und wieder zum Verschwinden bringt. Im Sinne einer Ästhetik der Absenz bringt Bageritz auf diese Weise im eigenen Werk zur konkreten Anschauung, was der Wahrnehmung durch Diebstahl, Raub oder Unterschlagung zuvor entzogen worden ist. Seine Arbeiten werden zu Stellvertretern des Verschwundenen, zum Substitut des Abwesenden und greifen durch ihre irisierenden Oberflächen das Thema des Sichentziehens gleich in zweifacher Hinsicht (materialikonographisch und rezeptionsästhetisch) auf.

Durch den künstlerischen Bezug auf gestohlene und bis zum heutigen Tag tatsächlich abgängige Kunst wird im eigenen Werk auch das Fremde thematisch. In der buchstäblichen Überlagerung verschiedener Bildebenen mischen sich verschiedene Autorschaften zu einem dynamischen Gesamtensemble. Das Unsichtbare wird sichtbar, das Auseinanderliegende zur Gleichzeitigkeit gebracht. Durch die Umkehrung der Verhältnisse gelingt auf diese Weise ein Zusammenfall des Verschiedenen: war die Existenz der Kunst zunächst Bedingung für ihren Diebstahl, so gerät der kriminelle Akt bei Bageritz zur Voraussetzung für die eigene Kunstproduktion. Stichwortartige Vermerke über Ort und Zeit des Diebstahls auf den Digitalprints lassen keinen Zweifel an der Realität des Verbrechens wie gleichzeitig an der Virtualität der erscheinenden Bilder. Die Ebenen der Wirklichkeit, Authentizität, Reproduzierbarkeit, Materialität und Idealität von Kunst verflüssigen sich und bilden ein Verwirrspiel zwischen Evokation und verweigertem Zugriff. Eine geradezu provokante Idee der künstlerischen „Bemächtigung“ alltäglicher Dinge ist bei Timm Ulrichs zu erkennen. Im Kontext seiner „Totalkunst“ stahl er in großen Handelsketten beispielsweise Apfelsinen, ein Taschenbuch oder ein Fläschchen Odol, um den Gegenstand dem Konsum zu entziehen und um seine „Beute“ später – versehen mit genauem Ort und Jahreszahl des Diebstahls – wie eine Ikone zu präsentieren. Die „Stolen Objects“ (1969/72) beziehen sich auf die schnelllebige Welt des Alltags und der Werbung – Kunstdiebstahl als Konsumkritik.

Während sowohl bei Bageritz wie bei Ulrichs die „geschädigten“ Kaufhäuser im Sinne des „Gesamtkunstwerks“ von einer weiteren Verfolgung absahen, erhielten Marina Abramović und Ulay 1976 für ihre Aktion „Da ist eine kriminelle Berührung in der Kunst“ in allen Museen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz lebenslanges Hausverbot. Sie hatten Carl Spitzwegs „Armen Poeten“ kurzerhand aus der Neuen Nationalgalerie entwendet (und diesen Diebstahl, den niemand ernst nahm, sogar zuvor angekündigt) und einer türkischen Familie über das Sofa gehängt. Mittlerweile sind beide Künstler selbst in mehreren Berliner Museumssammlungen vertreten. Von der damaligen medienwirksamen Aktion existiert eine Fotodokumentation von Mike Steiner, die letztmals 1999 im Hamburger Bahnhof, ebenfalls Berlin, zu sehen war. Kunstdiebstahl als Sozialkritik.

Ein Künstler bringt das Werk eines Kollegen zum Verschwinden – ein Fall, der im weitesten Sinne bis zu Robert Rauschenberg zurückgeht, der 1953 ein Werk von de Kooning (übrigens mit dessen Zustimmung) ausradiert hatte (Erased de Kooning Drawing), um sich nach eigenen Aussagen vom „Übervater“ zu befreien. George Pusenkoff bezieht sich in seiner Arbeit „Twice Erased Drawing de Kooning“ auf Rauschenberg. Ein Scan von Rauschenbergs „Erased de Kooning Drawing“ hat Pusenkoff seinerseits mit einem digitalen „Radiergummi“ bearbeitet. Mit Hilfe einer computergesteuerten Schneidemaschine wurde das partiell ausradierte neue Bild auf Folie übertragen, die Folie auf Leinwand montiert und die freien Partien mit Pinsel in schwarzer Farbe bemalt. Die pixelartige Auflösung der Linien und die umlaufenden „Taskleisten“ sind Verweise auf die Funktionsweise des Computers. Das ursprüngliche Bild wird den Blicken des Betrachters entzogen.

Eine dreiteilige Arbeit von Georg Herold aus dem Jahre 1985 trägt den Titel „Kunstraub“. Zu sehen ist jeweils ein großformatiger Keilrahmen, der unterschiedlich dicht bzw. flächendeckend mit schwarzem Stoff überzogen resp. umwickelt ist. Sollte sich der Künstler selbst an seinem „Werk“ als Dieb zu schaffen gemacht haben, wenn immer weniger vom eigentlichen, nämlich von der Leinwand zu sehen ist? Oder sollte es sich bei den mal geheimnisvoll, mal minimalistisch anmutenden Arbeiten um eine künstlerische Interpretation vom Kunstraub als Entzug des Wahrnehmungsgegenstandes handeln?

Moussa Kone und Erwin Uhrmann haben in ihrer Werftgalerie in Wien mit der „Kunstklappe“ ein sowohl „praktisches“ wie künstlerisch ambitioniertes Kunstprojekt geschaffen. Idee ist es, ähnlich der Baby-Klappe einen Ort zu schaffen, an dem gestohlene Kunstwerke anonym abgegeben und ihrem originären Eigentümer wieder übergeben werden können. Zweifellos ist die „Kunstklappe“ am Diebstahl von Cellinis „Saliera“ aus dem Wiener Kunsthistorischen Museum orientiert. Abgegeben hingegen wurde bislang „nur“ eine kunstvolle Nachbildung des Salzfasses wie eine Menge anderer Gegenstände, die wie im Falle eines alten, vergoldeten Holzwappens manchmal sogar tatsächlich auf einen lange zurückliegenden Diebstahl zurückgehen.

Anonymus malt Figuren auf Pappkartons, die er, annähernd in Menschengröße, ausschneidet und im öffentlichen Raum plaziert. Der ungenannt bleiben wollende Österreicher nutzt für seine Kunst, die mittlerweile als – scheinbar herrenloses – „Diebesgut“ einen Sammlerwert erreicht hat, überwiegend zentrale Schauplätze des internationalen Kunsthandels, so zuletzt auf der Biennale in Venedig oder auf dem Messeplatz vor der ART Basel. Seine „Pappkameraden“ werden dabei nur locker z.B. an Laternenmasten oder Parkpollern befestigt und laden geradezu zum Mitnehmen ein. Kunst im öffentlichen und als sozialer Raum.

Bereits Anfang der 1970er Jahre thematisierten Sigmar Polke und Achim Duchow Kunstkriminalität in ihren Arbeiten. Die Katalogedition „Franz Liszt kommt gern zu mir zum Fernsehen“ bildet dabei eine Dokumentation der Ausstellung im Westfälischen Kunstmuseum Münster aus dem Jahre 1973 und ist gleichzeitig ein eigenständiges Künstlerbuch.

Ersetzte, zerstörte oder verschollene Skulpturen sind das Thema von Mohamed Abdulla. Sein Anliegen ist die Dokumentation und Rekonstruktion ursprünglich vorhandener Bildwerke im öffentlichen Raum. Die hier präsentierte Installation bezieht sich auf sein Projekt „Latent Sculpture“ („Latente Skulpturen“), mit dem er auf der Skulptur-Biennale 2005 in Münster vertreten war. Mit den Arbeitsmethoden des Historikers verarbeitete er Dokumente, Zeitungsartikel und Informationen verschiedenster Art, um den verloren gegangenen Skulpturen nachzuforschen. Ziel der Nachforschungen war die Neugestaltung von acht Skulpturen, die in ebenfalls acht Städten auf den ursprünglichen Fundamenten der verschwundenen Werke ausgestellt wurden und jedes Jahr ausgetauscht werden.

Die Arbeit von Anna Anders spielt mit den Begriffen Realität und Illusion. Wachpersonal, das im museum die Beobachtung des Publikums zu Überwachungszwecken übernimmt, wird selbst zum Beobachteten resp. zum Kunstwerk. Die Museumswächter erscheinen als Video-Skulpturen. Die kaschierung des Technischen durch den schwarz gestrichenen Sockel betont die Körperlichkeit der Skulptur. Sätze wie „Nichts berühren bitte“, oder „Sie haben da was fallen lassen“ suggerieren Interaktion. Es entsteht Verunsicherung, Irritation, Sehen und Gesehenwerden im öffentlichen Raum.

Gestohlene Blicke im buchstäblichen Wortsinn: Die Bilder von Thomas Kutschker sind Beispiele aus einer Sammlung von 350 „Passbildern“. Es sind ursprünglich Abfälle, die bei Passbildfotografien anfallen und normalerweise unbeachtet im Papierkorb landen. Die eigentlich entscheidenden Portraits sind bei diesen Fundstücken in genormter Passbildgröße herausgeschnitten. Nur die außerhalbv dieser Norm gelegenen Bildteile sind jetzt unsere Bildquellen. Mit Hilfe dieser übrig gebliebenen Reste von Kleidung, Haaren und anderen Details lassen sich jedoch Rückschlüsse auf die portraitierten Personen ziehen. Ein zentrales Thema dieser Bildserie ist die mögliche Rekonstruktion des Nicht-Sichtbaren im Bild. Der Betrachter wird gefordert, die Vervollständigung/ Vollendung durch seine subjektive Imagination zu leisten.

Eine Seite der Zeitung „International Herald Tribune“ vom 5./6.10.1996 wurde von Volker Hildebrandt bis auf die Schlagzeile mittels seiner typischen Punkt-Übermalung zum Verschwinden gebracht. Der Künstler bemächtigt sich auf diese Weise der Vorlage und prägt dem in hoher Auflage produzierten Massenmedium sein eigenes Bild auf. Der spezifische Inhalt des Zeitungsartikels wird vollkommen unleserlich, das Medium Zeitung wird zum bloßen, materiellen Bildträger künstlerischen Schaffens – „stolen art“. Der Künstler der „Bildstörung“ hat eigens für diese Ausstellung eine großformatige Arbeit geschaffen, die den Raub eines Bildes zum Thema macht. Nach einer Vorlage von Eugéne Delacroix verflüchtigt sich das Bild im Bild in die tiefe der (Bild-)Unendlichkeit. Der thematische Raub der Kunst wird zum ästhetischen „Raub“ des Bildes.

Die Fotografie von Gibbs entstand 1988 im Foyer des World Trade Centers. Der Künstler legte den Fotoapparat auf ein Geländer und fotografierte sein Spiegelbild, das ihn zusammen mit seinem Galeristen und Freund Erhard Klein zeigt. In dem reflektierten Bild ist die Andeutung der Twin Towers zu erkennen. Durch die Zerstörung der beiden Hochhäuser ist damit nicht nur ein großer Handelsplatz und Lebensraum verschwunden, sondern auch die Reflexionsfläche für das fotografisch fixierte Bild.

© Ulli Seegers / Kunsthistorikerin / 2006 / Kunstvermittlung & Kunstmanagement / 2021

METAPHYSIK DES VERSCHWINDENS

Ein programmatischer Text

von
RALPH BAGERITZ

Hermann Ruhmer / der verschollene Großvater (*1904 in Leipzig) / Wille und Sehnsucht (des Wiederauffindens) / als raetselhaftes Suchbild / als Reise in die Ungewissheit / als Mysterium einer innerfamiliaeren Legende / Hermann Ruhmer / der Beruehmte / chaotisch cholerische Schwarzmarkthaendler / der Verschollene / nie Wiedergekehrte / der wohl in den Westen (den „goldenen“) Aufgebrochene / Gefluechtete ? / der Verlust auf beiden Seiten / traumatische Erinnerungen (der Tochter und Mutter) / „Der Ruhmer!“ / World War I & World War II / ueber- und erlebt / ebenso wie der Vater: Benno Albert Bageritz (* 1908 in Berlin) / der viel zu frueh Verschwundene / der Werbefachmann / der Lebenskuenstler / der mitten im Film abtrat / Kunst ist generell Werbung und zwar immer nur fuer sich selbst / Welches Bild beruehrt Sie am meisten ? / Die Klingelbilder / „Ein Zeichen sind wir und haben fast die Sprache in der Fremde verloren“ (Hoelderlin/Mnemosyne) / Bang-Gang-Poetry-Pathos / „Die Unuebersichtlichkeit der Massenkultur, die in Phaenomenen wie dem Ueberfluss und der Schnelllebigkeit der Warenwelt / der Reiz- und Bildueberflutung der Medien ihren Ausdruck und in der Urbanitaet des modernen Großstadtgefueges ihren infrastrukturellen Naehrboden findet“ / Frage nach historischer Identitaet / Suche nach Heimat ? / Pneumatik des Eigennamens / der Ort Bageritz (unweit von Deutsch-Baselitz) – zwischen Halle und Leipzig gelegen / anonymes Vergessen / Taeter und Opfer / Geben und Nehmen / Wie man abschafft – was man sieht / Blind Objects / ueberlagernde Uebermalungen / Die allgemeine Schwundquote / Stolen Objects (die Aufrichtigkeit des Kuenstlers am Ende des 21. Jahrhunderts) / marktgerechtes Utopiebewusstsein / Risikokunst als Kompensationsgeschaeft / Bageritzisierte Veduten einer Medienlandschaft / Canaletto & Guardi / „Die Odyssee eines Bildes“ / „Es wird vermutet / dass diese Werke in den Tresorkammern reicher Kunstfreunde verschwunden sind / die den Diebstahl in Auftrag gaben / um sich ihr leben lang allein an dem Motiv zu ergoetzen …!“
© Ralph Bageritz a.k.a. The b-AGE-ritz / 2001

PROJEKT: METAPHYSIK DES VERSCHWINDENS

Eine Ausstellungszyklus mit zwei-phasigen photographischen Lentikularbildern

von
RALPH BAGERITZ

in Zusammenarbeit mit dem Art Loss Register / Deutschland / Plakat-/Katalogtext

von
ULLI SEEGERS

Kunst und Kunstdiebstahl – eine Verbindung, die in Zeiten der Konjunktur des Kunstmarktes bei gleichzeitigem Ansteigen von Kunstkriminalität wie die zwei Seiten einer Medaille anmutet. Tatsächlich ist der Schaden durch sich immer dreister gebärdende und häufig organisiert agierende Kunsträuber mittlerweile an einen der vorderen Ränge eines traurigen „Rankings“ gerückt: Kunstdiebstahl steht nach Drogenhandel und Waffenschmuggel bereits an dritter Stelle internationaler Verbrechen. Mit über 50% werden private Sammler zu Opfern von Kunstkriminellen, gefolgt von Museen, Kirchen und anderen öffentlichen Einrichtungen. Selten sind es die Künstler selbst, die einen Diebstahl zu vermelden hätten. Und dennoch ist das Phänomen des Kunstraubs ein Thema, mit dem sich seit dem 20. Jahrhundert gerade Künstler auseinandergesetzt haben. So ließ sich auch Marcel Duchamp bei seiner ironischen Darstellung der Mona Lisa mit Schnurrbart (1919) von dem sich unmittelbar zuvor ereigneten Raub des Meisterwerks aus dem Louvre inspirieren. Verbergen, Erscheinen und Enthüllen zählen zu den ästhetischen Phänomenen, die Künstler seit jeher in den Bann geschlagen haben. Doch während die Präsenz und Absenz von Kunstwerken, ihr Verbergen und feierliches Enthüllen zu den kunsthistorisch tradierten Umgangsformen mit Werken der Kunst im Kontext religiöser Riten oder gesellschaftlicher Konventionen zählen, ist der Kunstdiebstahl aufgrund des Bruches von Tabus oder Normen von besonderer Brisanz. Es ist dabei nicht nur der materielle Wert, dessen sich der Räuber durch eine Straftat befleißigt, sondern immer auch ein unersetzbarer ideeller Wert, der durch einen Akt profaner Willkür der Raffgier zum Opfer fällt.

Kunst und Kunstdiebstahl – in den neuesten Arbeiten von Ralph Bageritz (*1958) gehen die beiden ungleichen Schwestern eine kunsthistorisch wohl einmalige Allianz ein. In Zusammenarbeit mit dem Art Loss Register Deutschland hat der Kölner Künstler Werke geschaffen, die unmittelbar auf gestohlene Kunstwerke verweisen. Für seinen Zyklus „Metaphysik des Verschwindens“ legt Bageritz Abbildungen von tatsächlich gestohlenen Kunstwerken und Sammlerstücken zugrunde, die auf der Datenbank des Art Loss Registers verzeichnet sind. Im Sinne einer Ästhetik der Absenz bringt Bageritz auf diese Weise im eigenen Werk zur konkreten Anschauung, was der Wahrnehmung durch Diebstahl, Raub oder Unterschlagung entzogen wurde. Seine Arbeiten werden zu Stellvertretern des Verschwundenen, zum Substitut des Abwesenden und greifen durch ihre irisierenden „Wechselbild“-Oberflächen ( Lentikular/ Lambda-Print hinter Linsenraster) gleichzeitig das Thema des Sichentziehens in doppelter Hinsicht (materialikonographisch und rezeptionsästhetisch) auf. Durch den künstlerischen Bezug auf gestohlene und bis zum heutigen Tag abgängige Kunst wird im eigenen Werk das je andere sowohl als Singuläres thematisch, wie auch in seinen Eigenschaften als prinzipiell Wiederkehrendes. In der buchstäblichen Überlagerung verschiedener Bild- und Zustandsebenen mischen sich fremde und eigene Autorschaften zu einem dynamischen Gesamtensemble. Das Unsichtbare wird sichtbar, das Auseinanderliegende zur Gleichzeitigkeit gebracht. Durch die Umkehrung der Verhältnisse gelingt auf diese Weise ein Zusammenfall des Verschiedenen: War die Existenz der Kunst zunächst Bedingung für ihren Diebstahl, so gerät der kriminelle Akt bei Bageritz zur Voraussetzung für die eigene Kunstproduktion. Stichwortartige Vermerke über Ort und Zeit des Diebstahls lassen keinen Zweifel an der Realität des Verbrechens wie gleichzeitig an der Virtualität der erscheinenden Bilder. Die Ebenen der Wirklichkeit, Authentizität, Reproduzierbarkeit, Materialität und Idealität von Kunst verflüssigen sich und bilden ein Verwirrspiel zwischen Evokation und verweigertem Zugriff.

Die Ausstellung zeigt neben den neuen Arbeiten auch frühere Werke von Ralph Bageritz. Die

aktuelle Werkserie „Metaphysik des Verschwindens“ wird auf diese Weise in den Gesamtzusammenhang des Œuvres gestellt und legt Bezüge zum Schaffen der 80er und 90er Jahre frei. Bageritz, der bereits in den 70er Jahren durch die Übermalung von Werbe-Anzeigen und Produkt-Logos Strategien der Werbe-Ästhetik konterkarierte, erscheint nicht nur durch den Einsatz unterschiedlichster Materialien und Techniken (Photographien, Collagen, Assemblagen, Objekte, Aktionen) selbst als „Kunst-Chamäleon“, das sich seiner von Unterhaltungsindustrie, Konsumrausch und Bilderflut geprägten Umwelt durch Mimikry perfekt anpasst, sondern auch als Zeremonienmeister verschiedener Formen des Erscheinens und Verschwindens. Der Einzugsbereich seiner „Evokations“-Transaktionen umfaßt dabei nicht nur die eigenen biographischen Hintergründe wie die Suche nach dem verschollenen Großvater („Hermann Ruhmer – Wanted for Grandfather [mütterlicherseits]“, 1991) oder die Herleitung seines Namens durch Recherchen im Ort Bageritz („Der Ausflug nach Bageritz mit Abstecher nach Baselitz“, 1988/89), sondern auch die sozio-kulturelle Spurensuche im urbanen Kontext („Klingelbilder“ , 1993). Die Anonymität, Isolation, Entindividualisierung und Trostlosigkeit, die die Photographien der Klingelschilder transportieren, finden eine Entsprechung in „Wer nicht wirbt,der stirbt“ (Edinburgh, 1982), eine überarbeitete Photographie, die die latente Gewalt von Werbung im Titel-Bild-Bezug drastisch zutage fördert. So wie riesige Werbe-Flächen und Marken-Terror den Konsumenten zur leichten Beute werden lassen, so demaskiert Bageritz diesen „Feldzug“ durch einen in der Tat gleichwohl kühnen wie provokanten Umkehrungs-Versuch: Der Künstler bedient sich einer ähnlichen Konfrontations-Strategie, wenn er im Kontext einer künstlerischen Aktion in großen Handelsketten eine Dose Erbsen, ein Taschenbuch oder auch eine Jeans stiehlt, den Gegenstand auf diese Weise dem Konsum entzieht und die „Beute“ anschließend – versehen mit Ort und Jahreszahl des Diebstahls – präsentiert wie eine Ikone („STOLEN OBJECTS“ , 1973-1991). Verschwinden und Erscheinen – hier bezogen auf die schnelllebige Welt des Alltags und der Werbung wörtlich verstanden.

Der neue Werkzyklus bildet eine konsequente Weiterentwicklung der zentralen und vielschichtigen Werkidee: das Phänomen des Verschwindens. Die Ausstellung zeigt Arbeiten von Ralph Bageritz, der sich dem Abwesenden und seiner Gegenwart aus verschiedenen Perspektiven gesellschaftskritisch oder ironisch genähert hat, unter thematischen Gesichtspunkten und versucht die komplexen Bezüge des Topos des Verschwindens herauszuarbeiten.

Das Art Loss Register

Das Art Loss Register ist ein internationales Unternehmen zur Aufklärung von Kunstdiebstahl. Mit Vertretungen in London, New York, Köln und St. Petersburg und mit ca. 30 Mitarbeitern besitzt es die umfangreichste private Datenbank gestohlener Kunst weltweit.

1991 gegründet, konnte das Register im letzten Jahr sein 10-jähriges Jubiläum begehen. Seit1997 existiert eine Dépendance in Deutschland, die seit 1999 in Köln ansässig ist. Alle vier Büros stehen der Öffentlichkeit für Registrierungen sowie für Anfragen an den Datenbankbestand zur Verfügung. Dank eines engen Netzwerks mit der internationalen Versicherungswirtschaft, dem Auktionswesen, der Polizei, mit Galerien, Kunsthändlern, Museen und privaten Sammlern konnte das Unternehmen mittlerweile zur Identifizierung und Rückführung gestohlener Kunst im Wert von mehr als $ 100 Mio. beitragen. Auf der Datenbank sind gegenwärtig fast 120.000 gestohlene Kunstwerke und Sammlerobjekte detailliert erfasst. Für das Ausstellungsprojekt von Ralph Bageritz konnten dank der überwältigenden positiven Resonanz einer Vielzahl der geschädigten Abbildungen aus dem Original-Bestand der Datenbank zur Verfügung gestellt werden, aus denen Bageritz nach künstlerischen Kriterien eine eigene Auswahl für seine neuen Arbeiten getroffen hat. Das Art Loss Register Deutschland unterstützt das Projekt von Ralph Bageritz durch die Bereitstellung von anonymisierten Objektdaten aus zweifacher Hinsicht. Zum einen erkennt das Unternehmen in der künstlerischen Absicht von Ralph Bageritz eine überaus interessante Position zeitgenössischer Kunst. Zum anderen erhöht die Verwendung von Reproduktionen tatsächlich gestohlener Kunstwerke faktisch deren Wiederauffindungschancen. Art Loss Register finanziert sich über Zuwendungen der internationalen Versicherungswirtschaft sowie aus dem Auktionswesen. Zur Philosophie des Unternehmens zählt die Auffassung, dass eine zentrale Bezugsstelle für alle Fragen der Kunstkriminalität keines kostspieligen Marketings bedarf. Überzeugen will man vielmehr durch eine hohe Aufklärungsquote (ca. 24%), die auch „Beutekunst“ mit einschließt.

© Dr. Ulli Seegers / Kunsthistorikerin / 2001 / Kunstvermittlung & Kunstmanagement / 2021

Dank für Unterstützung: ARTAX Kunsthandel / Düsseldorf; Badisches Landesmuseumm / Karlsruhe; Dorotheum / Wien; Fischerplatz-Galerie / Ulm; Heinrich Foss / Köln; Prof. Dr. Hartfiel / Euskirchen; Galerie Otto / Wien; Polizei Bremen / Jörg Rumpf, Köln; Dr. Kurt Sänger / Idar-Oberstein; Galerie Werner / Köln und Hiscox AG / München

CORPORATE IDENTITY – REVISITED

von
THOMAS HIRSCH

Zur Ausstellung von BAGERITZ® im Kölnischen Stadtmuseum 1995 ist eine umfangreiche Publikation erschienen, fast 400 Seiten,
durchweg farbig, ein bisschen wie ein (freilich aufwendiger) Versandkatalog und vor allem im Format und Mächtigkeit an die Fachzeitschrift „Kunstforum“ erinnernd: ein Katalog also,
mit dem BAGERITZ® das eigene Metier und Medium hinterfragt, sich der Strategien der Warenwelt bedient, diese umcodiert, so wie er sie in seinen Arbeiten selbst wieder erweckt…

Im Atelier an der Eupener Straße lehnen, hängen die Werkgruppen nebeneinander, mit Abstand; deutlich wird, dass alles zusammengehört, dicht verwoben ist. BAGERITZ® verwendet „trashige“ Erscheinungsweisen, er nimmt Headlines und Logos auf, die in unserer Wahrnehmung bereits Selbstverständlichkeit besitzen, und integriert diese collagenhaft. Ebenso löscht er aus, verdeckt oder isoliert Informationen: „Metaphysik des Verschwindens“ heißt die Ausstellung, die derzeit im Gothaer Kunstforum zu sehen ist. Aktuell sind die „Lenticulars“ (2-phasige Wechselbilder), die von gestohlenen Kunstwerken ausgehen, welche im Art-Loss-Register erfasst sind: mit einem (meist amateurhaften) erkennungsdienstlichen Photo, darüber sachlich, dokumentarisch Stichworte in direkter Übernahme aus dem Register. Je nach Betrachterposition ist mal die eine, mal die andere Ebene zu sehen. Der Vorgang des Verschwindens und möglichen Auftauchens wird bildhaft, zugleich fragil rekonstruiert. „Die Ebenen der Wirklichkeit, Authentizität, Reproduzierbarkeit, Materialität und Identität von Kunst verflüssigen sich und bilden ein Verwirrspiel zwischen Evokation und verweigertem Zugriff“ (Ulli Seegers / Pressetext).

BAGERITZ®, der 1958 in Köln geboren wurde, seit jeher die Biographie in die Arbeit einfließen lässt und mit seinem Namen Wortspiele anzettelt, diesen gleichsam als Label versteht, wird 1989 einem größeren Publikum bekannt: mit der Werkfolge „Der Ausflug nach Bageritz mit Abstecher nach Baselitz“ in einer Förderkoje auf der ART Cologne. Die deutsch-deutsche Geschichte und das eigene Lebensumfeld – z.B. die Ehrenstraße in Köln – sind in diesen Jahren Thema und Motiv seiner Photos, Photomontagen, Malereien und der Aktionen,

die er zum Teil mit Künstlerkollegen durchführt. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre gründet er das „Buero-fuer-Oeffentlichkeits-Arbeit“ und nutzt sein Lager in der Brinkgasse als Ausstellungsraum. Das Aktionistische, das zwischen anonymem und namentlichem Eingriff in den Alltag die Tradition von Happening und Fluxus anklingen läßt, kennzeichnet bis heute BAGERITZ®`Arbeit. Die STOLEN OBJECTS, selbstironisch „Die Aufrichtigkeit des Kuenstlers am Ende des 20. Jahrhunderts“ beschrieben, entstehen seit 1991. „Dem Rezipienten wird der Konsum in seinen abstrusesten Auswüchsen in ironischer, bissiger Neo-Dada-Manier vor Augen gehalten“, schreibt Peter V. Brinkemper (Typ., 2001). Die STOLEN OBJECTS sind – ohne jede Konsumabsicht – aus dem Supermarkt mitgenommen worden und, zu unterschiedlichen Konstellationen arrangiert, dem Werk von BAGERITZ® einverleibt worden. Hierzu gehören auch die Straßenpoller, die Bageritz aus dem Stadtbild entfernt, teils bearbeitet und schließlich als plastische Objekte ausgestellt hat. Und er photographiert Läden, Schaufenster, Autos, in die eingebrochen wurde. Die Absenz der Dinge wird zur Voraussetzung für das Kunstwerk. Dann wieder hat er eine CD mit den „GRUNDGERÄUSCHE(N) DER EHRENSTRASSE“ zusammengestellt. Nichts ist ausgeschlossen, was das alltägliche urbane Geschehen zur Verfügung stellt, wie es dort, häufig den Prinzipien von Konsum und Vermarktung folgend, formuliert ist. „Die einzigen guten Nachrichten“, notiert BAGERITZ®, „werden in Zukunft aus der Werbung kommen!“

© Thomas Hirsch / Kunstkritiker / „CHOICES – Kino/Kultur/Köln Magazin“ / Mai 2002 / Plakat-Aktion vom 18. – 30. Mai 2011 in Shanghai/CN

BAGERITZ: DER KURSWERT DER ZEICHEN

von
PETER V. BRINKEMPER

Aus der Perspektive der Alltagskultur erscheint das Museum als ein untypischer Ort, an dem die sozioökonomische Produktion von Zeichen unter dem Paradigma von Kunst zu einem wertschöpferischen Höhepunkt und Stillstand gekommen ist. Sammlung, Ausstellung und Archivierung verleihen der Produktion über den vom einzelnen Künstlersubjekt gesetzten Anspruch hinaus jenen hochkulturellen Adel, der dem Werk die Patina des Zeitlosen verleiht, das es hochpfleglich zu verwahren und kritisch-lobend zu analysieren gilt. Der Kontext der Musealisierung ist jedoch nur ein besonders arbeitsteiliger Kanal der gesellschaftlichen Aufmerksamkeitsarbeit. Ihr anderes, technisch hochgerüstetes Extrem findet sich in der digitalen Revolution der Medien zwischen TV, Computer und Internet: Hier wird der Oberflächen-Output von Information, Unterhaltung und Werbung globalisiert: unendlich erweitert, modifiziert und beschleunigt und damit von vornherein aus den historischen und lokalen Kontexten herausgerissen und dynamisiert.

Die reale Alltagswelt erscheint aus dieser doppelten Sicht als eine Nische, in der die großen und kleinen Signaturen der Epoche nur bei Gelegenheit zur Erscheinung gebracht werden, wo sie zum Verkauf anstehen oder dem Verbrauch unterworfen sind. Die Alltagswelt formt sich nach den Imperativen des tagtäglichen sozialen Lebens, des Konsums, des Verkehrs, der Arbeit und des Handels und Wandels. Sie ist ein Geflecht von Ordnungen und Strukturen, die einander überlagern und widersprechen. Und in diesem Kontext gehen die großen Bildwelten der Öffentlichkeit, der Politik, der Medien und der Kunst selektiv ein: weniger als überhöhte Ereignisse, sondern als verkleinerte Alltagsgegenstände mit mannigfachen Zwecksetzungen und Zweckentfremdungen, als praktische Devotionalien, manipulierbare Zeichen, degenerierte Aussagen, als hochverderbliche Ware und verschleißbares Material im Zusammenhang der indviduellen und kollektiven Biographie.

Den Zusammenhang von Werbung, Kunst und Medien macht Bageritz zum Thema seiner Arbeiten. Im Zentrum steht der Kurswert der Zeichen im Kontext der Alltagswelt. Bageritz verwandelt die Kunst in ein anscheinend werbeförmiges Modell, wobei die Mittel der Werbung wiederum durch die Strategien der Kunst formal und inhaltlich aufgebrochen und überholt werden. Hinzu kommt die Verschränkung von Alltagsbewusstsein und Kunstanspruch: die Verstörung des Kunstraums durch bisweilen unzensiert heftige Alltäglichkeiten und die gezielte Reinszenierung des Alltagsraums als Kunstraum erklären die Doppelbödigkeit in Bageritz´ Werken, die Scharnierfunktion seiner Bilder und Objekt-Collagen.

Anzeichen für die auf die Werbung bezogene Vorgehensweise finden sich in seinem Werk durch die Übernahme und Anverwandlung von Ikonen, Pictogrammen, Logos und Botschaften aus der Warenwelt, die im eigenen Kontext abgewandelt und verfremdet werden. So verwendet Bageritz erstmals 1983 das ®, das Registered Trade Mark (eingetragenes Warenzeichen), in Kombination mit einem als Graffitti weiterverarbeiteten Notausgangs-Pictogramm einer laufenden Gestalt. Es entsteht ein neues Logo: Die Gestalt flüchtet im Gegensinn zur Leserichtung vor dem ®, umgekehrt scheint das ® die Bewegung der Gestalt anzutreiben. Bild und Schrift sind hier auf einzelne elementare Zeichen reduziert und bieten zugleich die Basis für das Bageritzsche Verfahren der fortwährenden ®-Läuterung, Ausdeutung und Umdeutung.

Seit 1984 wird das ® spiegelverkehrt in Verbindung mit dem Namen als Signatur verwendet. So auch 1985 auf dem Plakat zur Ausstellung „SEX-SHOP 46, 1.Deutsche ®-Läuterung im Europa-Format“. Ein künstlerischer Akt der Selbstironie. Denn durch die Umkehrung des ® erhält der nun entstandene kyrillische Buchstabe die Bedeutung „Ich“ und „Ja“. Die großformatige Leinwandarbeit „The b-AGE-ritz. ®-Läuterung zur Erfindung des (®-) Erfinders“, 1987, präsentiert ein umgekehrtes und gespiegeltes ® als Kreissystem, in dem viele verschiedene Varianten des normalen ® wie in einer Lostrommel zu rollen scheinen.

Durch das Symbol des ® wird der Name der Künstlers zum Markenzeichen, und die mit diesem Zeichen ausgestatteten Botschaften werden zu konzeptuell kalkulierten Werbeslogans. Damit stilisiert Bageritz seinen Namen zum Logo und stellt sich und seine Kunst unter Einbeziehung verschiedener Medien als inszenierter Künstler und inszeniertes Kunstwerk dar. Obsessiv führt er ein Kunst-Werbe-Programm durch, unter dem für die heutige Kunst allgemein bezeichnenden Titel: „Kunst ist generell Werbung und zwar immer nur für sich selbst.“ (1989) So schafft er für seine Kunst ein Gesamtkonzept, dass die Strukturen des Kunstbetriebes durchleuchtet. Dem Rezipienten wird der Konsum in seinen abstrusesten Auswüchsen in ironischer, bissiger Neo-Dada-Manier vor Augen gehalten. Die Gesetze des heutigen Kunstsystems werden nach allen Regeln vorgeführt. (siehe dazu die Serien: „Stolen Objects – Die Aufrichtigkeit des Künstlers am Ende des 20. Jahrhunderts“; „Pherbotene Votogravie“ und die Serie: „Bageritz Paparazzo – Gestohlene Photographie“).

Das Projekt „Pherbotene Votogravie/Veduten einer Medienlandschaft“, 2000, behandelt ein Skandalthema auf die gleiche doppelbödige Weise wie bisherige Arbeiten. „Mensch-Tier-Sex“-Bild-Motive werden durch den Einsatz von Firmenlogos zu einer außergewöhnlichen, ja absonderlichen Werbebotschaft stilisiert. Ähnliche Motive hatten bereits 1982 zu einer früheren Werkserie: „Bageritz-Bizarre/Philosophy-Advertisement“ und zu anderen Akzenten geführt. Den Anlaß zu „Pherbotene Votogravie“ ergab sich durch eine in der VOGUE (US und D) erschienenen Mode-Kampagne, in der EMANUEL-UNGARO-Produkte im erotischen Flirtspiel von Kampfhund und Model dargestellt werden. Die Inszenierung der Accessoires als Äquivalent eines Luxushundehalsbandes, einer sadomasochistischen Fesselung von kultursprengenden Triebstrukturen, spricht für sich: Das sanfte Diktat der Mode domestiziert die animalische Seite der Menschen im Medium des exklusiven Konsums. Diese Thematik hat Bageritz zu einem neuen Inspirationsmodell geführt.

Die früheren Arbeiten der Serie „Bageritz-Bizzar“ umfassen einerseits veränderte Zeitschriften-Anzeigen: Produktwerbungen für „Du darfst“ (fettreduzierte Margarine), „Remy Martin“, „Deutsche Bank“, werden durch sexuell explizite Fotoelemente, weibliche Genitalien, entstellt. Die Werbebotschaft wird durch absurde Irritation der Sehgewohnheiten torpediert. In einem anderen Beispiel werden Abbildungen aus einem „Mensch-Tier-Porno“ zur Werbung umgestaltet: Eine kultivierte Frau mit modischer Brille und goldener Uhr manipuliert unverdeckt ein Eselsgenital. „AUGENDÜBLER. Brillen für Köln“ lautet die sarkastische Botschaft. In der neueren Arbeit „Pherbotene Votogravie“ wird der Blick umgelenkt. Die „Mensch-Tier“-Motive bilden den Untergrund für die Versammlung mehrerer Firmenlogos, welche die explizit pornographischen Bildstellen belegen und verdecken. Während Bageritz die Werbewelt 1982, noch vor dem BENETTON-Effekt, in ihrer vermeintlichen Seriosität durch den Schock pornographischer Elemente attackiert und umformt, scheinen die vereinten Firmenlogos 2000 alle möglichen tabuisierten Grenzfelder erfolgreich besetzen und ökonomisieren zu können.

Das Mensch-Tier-Motiv ist für Bageritz auch kulturell motiviert: Er knüpft an eine von ihm selbst überarbeitete Werbeanzeige „Texte zur Kunst“, 1986 an, die ein griechisches Vasenbild mit dem Streckennetz der Swissair in Verbindung bringt: Europa, Tochter des Phönix und der Perimede, wird beim Spielen am Strand von Zeus in Gestalt eines Stiers geraubt und über das Meer nach Kreta entführt, wo sie ihm drei Söhne gebiert. Die Mythologie kennt keinen Unterschied zwischen Mensch und Tier, sie überwindet ihn durch die Verwandlung, so wie die Technik Raum und Zeit überwindet und Werbung Kultur und Geschäft mühelos verbindet: „Heute wird ihr Name (EUROPA) auch gerne mit rund 50 Swissair-Destinationen in Verbindung gebracht.“

Bageritz unternimmt Raubzüge durch die vermarktete Wirklichkeit. Das ist metaphorisch und wörtlich zu verstehen. Diese Linie lässt sich verfolgen von den „Stolen Objects“ bis zu „Bageritz Papparazzo – Gestohlene Photographie“, (2001) Er zahlt dem Mythos und Kult der Marken mit ihren eigenen Mitteln heim und konstruiert Reklame aus den zerbrochenen Werbewelten in seinen Pivatarchiven. Er zerlegt den medialen Nexus von Sinn und Bild, er löst das Branding von Logo und Markenobjekt auf, um die Zeichengebung in unerwartete Richtungen zu lenken. So gewinnt Bageritz eine distanzierte Sicht auf den waren- und medienästhetisch zugerichteten Blick. Er zeigt auf, wie die Umwelt sich immer wieder neu zum weltlosen Markenartikel entleert, zur konsumierbaren Vedute, zum Ausverkauf des herrschaftlichen Überblicks (Bageritz: „Veduten einer Medienlandschaft & Canaletto & Guardi“). Logos stehen für Firmenphilosophien, Marktanteile, Realitätsausschnitte und Produktpaletten. Wir lesen die Wirklichkeit in ihrer Verkaufbarkeit, ohne sie zu sehen. Bageritz macht die marktförmige Wahrnehmung von Alltag und Umwelt sichtbar und bricht zugleich die illusionäre Geschlossenheit von Sinn und Bild unter der Herrschaft des Kurswertes auf. Schrift- und Bildzeichen machen neue, ungewöhnliche Angebote (im bewussten Einsatz von werbestrategischem Equipment wie Plakate, Flyer, T-Shirts und Sticker). Die Symbole treten mit dem Rezipienten in Verhandlung. Die Bildumgestaltungen testen die Fähigkeit zur Distanzierung gegenüber der eigenen, durchnormierten Haltung zur Welt, sie appellieren an die Bereitschaft, längst akzeptierten Expertisen und gepflegten Einschätzungen zu misstrauen. Test the Test. „Stiftung Warentest. Heft 12/2000. Ansprechend. 34 Weine im Test. 5 Ansprechend. 25 durchschnittlich. 2 einfach. 1 sehr einfach. 1 fehlerhaft.“ So ein Baustein der seit 1989 sich immer weiter auflistenden Sammlung von Urteilsetiketten, die als Projektionen von Logos auf der Leinwand auftauchen, unter dem Titel: „Ready-Made-Test-Painting“: 14 Gas-Brennwertkessel, 22 Rasenmäher, 19 Bodenstaubsauger, Schadenregulierung: 40 Kaskoversicherer, 14 Mittel zur Glättebekämpfung, 22 Matratzen, 23 Orangensäfte, 18 Dampfbügeleisen, 16 Räucherlachsprodukte für sensorische Qualität, 15 Shampoos für strapaziertes Haar, Anlageberatung von 28 Banken, 27 Krankenversicherer, 19 Funktelefone, 19 Toaster, davon 7 mit Wärmeschutzmantel, 65 Dispersionsfarben, 13 APS-Kameras, Krankenhaus-Zusatzversicherungen für Kinder (ohne Zahl), Schülersprachreisen nach England (ohne Zahl), 30 Weißlacke, 23 Stichsägen, 19 Tiefkühlpizzen, 23 Badreiniger, 18 Espressomaschinen, 17 VHS-Videocassetten, 20 Drucker, 12 Elektrovertikutierer, 22 Heizlüfter, 11 einbruchhemmende Haus- und Wohnungstüren, 16 Winterreifen und 25 Internetprovider, 15 Ferienparks, 16 Reisebüroketten und Franchise-Organisationen. Die Sammlung archiviert materielle Kurswerte der heutigen Gesellschaft.

Der Skandal um „Pherbotene Votogravie/Veduten einer Medienlandschaft“ ist weniger im bildnerischen Motiv, sondern wesentlich in der Anlage und Form der Arbeit vorprogrammiert. Der Künstler hat die literarisch-politische Mehrschichtigkeit seiner Schrift-Bild-Kompositionen auf drei klar voneinander getrennte Ebenen reduziert: Provokative trivialpornographische Fotoseiten aus in der Bundesrepublik indizierten holländischen Mensch-Tier-Sex-Magazinen sind an den entscheidend kopulativen Stellen von regional und weltweit bekannten Firmenlogos mit exklusiver oder egalitärer Markenpolitik überklebt. Mehr nicht, aber auch nicht weniger. Dazu reicht Bageritz seine typischen Sprachcocktails mit medienpolitischen Stichworten, die die Entfremdung der Mediengesellschaft anreißen und dadurch mit Strategien der Umkehrung operieren, wenn von der „MENSCHENLIEBE AUS DER TIERPERSPEKTIVE“ die Rede ist.

Die vorübergehende Beschlagnahme der Arbeiten durch die Polizei gleich nach der Eröffnung aufgrund einer anonymen Anzeige hielt die Medien von einer positiven Besprechung nicht ab (KÖLNER EXPRESS, DIE ZEIT). Ihr Urheber bezog sich auf die „sittliche Anstößigkeit“ des pornographischen Materials. Für den Künstler stand die Profilierung über pornographische Inhalte außer Frage. Ihm ging es allein um das Medium Photographie mit „PHERBOTENEM SUJET“. Nur die eigene Verknappung der Sehweise konnte dem Künstler vorschnell die eigenen, anthropologisch unreflektierten Projektionen unterstellen. Denn die einzelnen Motive sind zwar im Grundriss erkennbar, und doch liegt in keinem Falle eine explizite Darstellung vor. Die expliziten Stellen lagen im Untergrund der Logos. Nur durch Beschädigung der Arbeiten, konnte der Einblick wiederhergestellt werden. Die Polizei hat in ihrer behördlichen Neugierde so verfahren.

Die schockbewusste Andeutung bei gezielter Überdeckung korrespondiert mit der aktuellen Tendenz zur Porn Art als selbstverständlichem Bestandteil von Mode und Lifestyle. Dabei wird das Sexuelle eigentümlich neutralisiert. In den früheren überarbeiteten Werbeanzeigen der Serie „Bageritz-Bizarre / Philosophy-Advertisement“ (1982) sowie in „Alte Provokation – Neue Herzlichkeit“ (1985) werden Geschlechtsteile, Phallus und Vagina, als Bildelemente der Vermarktung oder eigenwillige Devotionalien aufdringlich präsentiert, um die Anzüglichkeit von Werbung bzw. Glauben („HERZ-JESU-KULT“) zu kennzeichnen.

Die pseudopornographische Praktik der PORN ART in den Lifestyle-Magazinen aus Großbritannien, Holland und den USA, ergeht sich zumeist in glamourös stilisierten Teasern, die als Shock-Motive die sterile Welt der Mode jugendbewusst aufheizen sollen. In der schon erwähnten UNGARO-Kampagne behält die Werbung für die Accessoires die Oberhand über die schlüpfrige Thematik. In David Lachapelles Fotostory „My Father bought me a Pony“ für „I-D“ werden Lifestyle und Luxus mit der Metapher des potenten Daddy-Hengstes veranschaulicht, Sex avanciert zur Ikone des gesellschaftlichen Ansehens.

In „Pherbotene Votogravie“ trennen die Firmenlogos den Blick vom Sex. Es entsteht eine verdeckte, durch und durch codierte Darstellung. Die bildverwaltende Gewalt der Marken erobert die letzten Territorien und Tabus, ihre globale Ideologie überwuchert das konkrete Erlebnis, die eigene animalische Triebhaftigkeit, die, wie alle anderen Lebensfunktionen auch, zum neusten Konsumentenverhalten normalisiert wird, um daraus ein Geschäft zu machen.

Die neutralisierende Anstößigkeit der Kopulation beruht auf der Technik der Beseitigung des Gegners – eine Art von digitalem Techno-Kannibalismus. Er wiederholt und verstärkt sich auf der Ebene der Firmen-Logos: Gesichter, Brüste, Hände, Geschlechtsteile von Menschen und Tieren, das heißt Bedürfnisse, Nöte, Begehren, Leidenschaften, Irrungen, Perversionen, werden abgedeckt durch sorgfältig aufgeklebte Firmenlogos wie „Sony“, „GAP“, „Dr. Oetker“, „PRO 7“, „Reemtsma“, „DAS“, „Stadtsparkasse“, „Proeffekt“, „Ritter Sport“, „Future Step.de“, „Bertelsmann-Stiftung“, „OBI“, „Herta“, „H&M“, „Securitas“, „RWE-Energie“, „Telegate“, „Hipp“, „Online Today“, „Bahlsen“. Die Logos wachsen zu Feldern zusammen, sie konkurrieren miteinander und sie entwerten die vermeintliche Provokation im Bilduntergrund. Die Entstehung eines Markenartikels ist ein Prozeß der Abstraktion, der Chiffrierung, hier der Entpornographisierung. Übrig bleibt die oft unfreiwillige Komik des Ausgangsmaterials, das von Bageritz radikalisiert wird. Er entblößt durch Verdeckung, poetisiert die brutal-triviale Vorlage der sodomistischen Darstellung.

Die farbigen Typographien der Firmen-Logos lassen bei längerem Hinsehen das Sujet gänzlich verschwinden. Die Versammlung der vielzähligen Signets pro Bild erinnert an die massenweise Bandenwerbung bei Fußballspielen und löst die ausschließlichen Imageeffekte und Werbewirkungen der jeweiligen Einzelmarke auf. Der Kampf um die Anteile am noch nicht markenförmigen Begehren ist im vollen Gange.

Eine ähnliche Wirkung entsteht durch die Fülle der ausgestellten Exponate. Die Bildwand mit zahllosen „pherbotenen“ Motiven führt zur Indifferenz, zur „Metaphysik des Verschwindens“ (Bageritz). Die konzernförmige Angebotsstruktur funktioniert überall, auch auf dem Markt der austrocknenden Perversionen.

Die Orgie findet nur in der Ökonomie statt. Die Zeichen und Embleme befinden sich im Zustand der wildesten Übernahme, der kapitalen Kopulation. Für Bageritz hat jeder Betrachter seine impliziten Wertungen und Kursprognosen im Kopf: biedere Billigkeit im ProMarkt und Aldi, Allianz-Sicherheitsdenken und Sonys Hightech. In der Versammlung der Logos treffen Low-Prize- und High-Prize-Policy aufeinander, kulminieren westliche und östliche Wertschätzungspolitiken.

„Bageritzisierte Veduten einer Medienlandschaft“ sind eine treffende Bestimmung für den Kurswechsel, den der Künstler vornimmt: Im digitalen Zeitalter ist das einzelne Bild mehr denn je Teil der ökonomisch-politischen Produktion, es soll „Vedute“, idealisierend-verklärende, scheinbar vollständige Ansicht, Traumbild, Herrschaftsblick der Infosociety sein. Bageritz setzt die profane Reklame der individuellen Unvollkommenheit ein, um der „Ästhetisierung des Nichtvorhandenen“, der „Sehnsucht der Postkarte“ und der ewigen „Millionärsshow“ unbefriedigter Begehrlichkeiten zu entkommen. Diese „Risikokunst“ muss unberechenbar bleiben, sie produziert die fortwährende Gratwanderung der Themen, der Formen und ihrer Rezeption.  © Peter V. Brinkemper / Philosoph / 2001

DIE LOGIK DER KUNST IST DIE LOGIK DER ENTFÜHRUNG!

Der Künstler RALPH BAGERITZ zwischen STOLEN OBJECTS – der METAPHYSIK DES VERSCHWINDENS & MOST WANTED ART

von
PETER V. BRINKEMPER

Der Kunstdiebstahl hat eine besondere Noblesse, leider weniger in der Realität, als in der Kunst selbst und in der Literatur und im Film. Unzweifelhaft handelt es sich hierbei immer um ein Verbrechen der besonderen Art. Nach einem typischen Modell denkt man weniger an gemeinsamen Raub und lautstarken Überfall, wie im Falle der traurigen Zertrümmerung und gewaltsamen Plünderung des archäologischen Museums in Bagdad während des laufenden Irakkrieges. Der echte Kunstdiebstahl erfordert „zivile“ High-Tech-Standards einer minimal invasiven Operation: unauffälliges Eindringen, sanftes Zu- und Einpacken, zunächst unbemerktes Entwenden, oder beiläufiges Unterschlagen. Dass es ausgerechnet bei Munchs „Schrei“ in der Gemälde-Fassung des Osloer Museums einmal heftiger zuging, passt dann wieder zum offenen Mund der Hauptfigur, längst zum globalen Plastik-Signet verkommen im Teeny-Slasher-Film „Scream“ oder aufblasbaren Puppe im Museums-Shop. Aber eine Ausbeute von Gentleman-Caper-Movies mit Thomas-Crown-Figuren und mit ihrem oft scherzhaften außer Funktion setzen von Alarmanlagen (der Bumerang in Wylers „Wie klaut man eine Million?“) und Video-Kameras (die Videoloops in Soderberghs „Ocean 11“) sorgt dafür, dass sich in den Köpfen des Publikums das Bild eines kultivierten Diebstahls festgesetzt hat, und dieses Bild mit einem fast normgerechten Kunsttransport ins Nirgendwo verschmilzt. Das ganze stellt man sich veranstaltet durch Profi- und Ausnahme-Meisterdiebe oder durch plumpere Banden vor, gesteuert durch gebildete Hintermänner, korrumpierbare Galeristen, begierige Sammler und vertrottelte Museumsmitarbeiter, Nachtwächter und lückenhafte Alarmsysteme. Der Kunstdiebstahl hat seiner Natur nach etwas von der Akribie eines archäologischen, eines wissenschaftlichen und künstlerischen Unternehmens und dahinter auch immer etwas vom riskanten Leichtsinn einer Spielernatur. Eine Art Grabräubertum in den kulturellen Pyramiden der Gegenwart, eine Schatzjagd auf die letzten Originale der Gegenwart und der Vergangenheit mitten in einer postindustriellen Welt, deren Objekte, Subjekte, Erlebnisse und Erfahrungen immer austauschbarer werden, weil die Technologien der digitalen Medien, des Klonens und der Nanosphäre die Reproduzierbarkeit der Dinge immer weiter vorantreiben.

Die Motive für eine Entwendung können vielfältig sein. Sie pendeln bei den Auftraggebern und ihren Mittelsmännern zwischen klaren oder diffusen monetären Interessen, pervertierter Kunstbesessenheit, überzogener persönlicher Ruhm- und sozialer Geltungssucht, Spaß am Risiko, anti bourgeoiser Missgunst und hartem Sozialneid, sowie elitären und aristokratischen Affekten. Man schadet damit dem öffentlichen Renommee der Museen, indem man den elitären Zirkel der Experten und der vermögenden Sammler und Sponsoren gegen die breite Öffentlichkeit der Gebildeten und Kunstinteressierten ausspielt. Oder man versucht, Namen und Preise auf der nächsten Auktion in die Höhe zu treiben. Bei den Umsetzern fallen ökonomische Motive und kriminelles Potential zusammen.
Allesamt haben sie etwas zu tun mit der Theorie der reichen Leute und denjenigen, die so tun, als ob.

ARISTOKRATISCHE KUNSTIMMANENZ – DIE MEISTERDIEBE

In der Figur des Meisterdiebs verdichten sich alle diese Rollen in einer seltsam mythischen und idealistischen Figur: Es geht um den Mythos der reinen Kunstimmanenz. Danach will wahre Kunst eigentlich nicht auf den Markt, wo sie sich nur durch Angebot und Nachfrage entäußert und entfremdet, und diese Kunst sich selbst in Bedrängnis sieht und sich deshalb selbst stiehlt, entführt und zugleich bewahrt, indem sie in die Sphäre des reinen Genies heimkehrt. Man muss dabei nicht gleich an E.T.A. Hoffmanns „Cardillac“ oder an Charles Bonnet aus Wylers Film „Wie klaut man eine Million?“ denken, zwei Kunstfiguren aus dem alten, absolutistischen und dem modernen Nachkriegs-Paris, die ihre Kunst, bei Cardillac das verkaufte Geschmeide, bei Bonnet eine vom Großvater gefälschte, im Museum ausgestellte Benvenuto-Cellini-Statue entweder mörderisch zurück rauben oder nur friedlich entwenden lassen, um die Entäußerung ihrer genialen Werke zurückzunehmen, die Kunst aus den Händen kunstfremder Besitzer zurück zu holen, die nur der Schönheit ihrer Maitressen oder dem eigenen Prestige hinterher jagen, – um dem Größenwahn zu frönen, als Juwelen-Gott und als das Fälscher-Genie, das allemal bessere Werke als die kopierten Original-Künstler produziere.

In den Augen dieser High-Level-Gentleman-Diebe bleibt alles in den Händen einer aristokratischen Kunst-Lobby. Es findet demnach eigentlich kein Diebstahl, kein Raub statt, sondern eine relativ sanfte Entwendung eines Objektes, die Entführung einer berühmten, bekannten Persönlichkeit aus dem falschen Kontext, die vor allem auch nicht durch entsprechende Zahlungen, wieder in einen erneuten Erwerb überführt werden kann. Die eigentliche Präsenz der Kunst liegt somit in der strahlenden Spähre des Künstlers und Produzenten, jeder Abstand von dieser Quelle ist eine Station auf dem Weg zur Entfremdung und Verdunkelung des Werkes.

SOZIALER MUNDRAUB – DIE ROBIN HOODS

Die Entwendung des „armen Poeten“ von Spitzweg 1976 aus der neuen Nationalgalerie in Berlin stellt ebenfalls eine Entführungs-Aktion dar, die künstlerisch motiviert und konzipiert ist, wenn auch gerade nicht mit elitären, sondern sozialen, gesellschaftskritischen Akzenten. Marina Abramovic und Ulay gaben ihrer Aktion den Titel „Da ist eine kriminelle Berührung in der Kunst“. Sie kündigten den „Spitzweg“- Diebstahl an, und bewiesen mit der Durchführung die leichte Stehlbarkeit bekannter Kunst in führenden Institutionen. Sie standen zu ihrer Aktion, die sie mit ihren Namen als Kunsthandlung signierten, und überführten die Beute durchaus gesellschaftskritisch-populistisch in eine nicht-exklusive Privatsphäre. Dem Ausstellungsobjekt verliehen sie auf Zeit die Funktion eines Sofabildes im Wohnzimmer einer türkischen Familie, die sich den Besitz eines solchen Bildes sicher auf legalem Wege nicht einmal leihweise hätte leisten können. Alle Vorgänge wurden fotografisch festgehalten. Dem Verschwinden im öffentlichen Raum entsprach das Erscheinen in der privaten Sphäre. Die Unternehmung führte zu einem lebenslangen Hausverbot für die Künstler in allen Museen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Aber auch zur künstlerischen Dokumentation erst eines Diebstahls und dann der anschließenden sozialkritischen Umfunktionierung öffentlicher Kunst im Robin-Hood- und Günter-Wallraff-Stil durch die Künstler. Mike Steiner produzierte mit Abramovic und Ulay eine fotografische Dokumentation des Diebstahls, der somit zugleich künstlerisch inszeniert wurde und real ablief. Die Aktion war insofern weniger ein Akt des Verschwindens, sondern ein Akt des Sichtbarmachens kultureller Grenzüberschreitungen, eine erweiterte Kunst- und Bildproduktion, die mehrmals öffentlich ausgestellt wurde, wie zuletzt 1999 im Hamburger Bahnhof, Berlin sowie 2006 in der Ausstellung „Der gestohlene Blick“, Exponatec Köln / Cologne Fine Art, an der auch Ralph Bageritz beteiligt war.

Diebstahl und Entwendung von Kunst sind eng mit dem kunstwissenschaftlich, kriminologisch und monetär verbrieften Original verbunden. Von daher sind Entwenden und Verschwinden Geschehnisse, denen bei hinreichend differenzierter Berichterstattung in den Medien die Aufmerksamkeit einer internen oder breiten Öffentlichkeit sicher sein kann. Der Diebstahl ist die kriminell oder auch künstlerisch inszenierte Seite des Aufmerksamkeits- und Wertschöpfungssystems Kunst. Der entdeckte und vermeldete Diebstahl ist gleichsam der letzte öffentliche Auftritt der Kunst, im noch aktuellen Wort und im historisch gewordenen Abbild, vor ihrem tatsächlichen Verschwinden. Die eigentliche Tragik der Aktion besteht darin, dass das für die private oder öffentliche Nutzung bestimmte Ausstellungs-Objekt als gestohlenes notwendigerweise der Sphäre der Öffentlichkeit und der entsprechenden Nutzung, der Forschung und breiteren Rezeption verloren geht. Es wird zweckentfremdet, wenn nicht gar durch unkundige Hände oder böswillige Akteure falsch behandelt, beschädigt oder direkt zerstört. Die Entwendung von Kunst aus dem privaten oder öffentlichen Kunstraum ist damit zweifellos ein Akt der materiellen und ideellen Schädigung.

Aus der Sicht der demokratischen Öffentlichkeit und des Kunstmarktes geht es um das Kontinuum der Vermittlung zwischen Künstler, Galerist und Museum, zwischen Ausstellung und Ankauf, zwischen privater Sammlung und musealer Präsenz. So sollte Kunst als exklusiver Besitz von Privatleuten und Sammlern und langfristig in Form von Stiftungen als Kultur für alle, als demokratisch transparente Wertschöpfungsinstanz der Öffentlichkeit maximal zugänglich gemacht werden.

ABSCHIED VON DER ROMATIK – DAS ART LOSS REGISTER

Die Angaben des Art Loss Registers/Deutschland GmbH, der weltweit größten privaten Datenbank zur Wiederauffindung gestohlener resp. verschollener Kunstwerke, u.a. mit Sitz in Köln, geben eher Anlass, von romantischen und sozialromantischen Vorstellungen der Kunst-Entführung Abstand zu nehmen: 2006 lautet die Meldung, dass auf einem weiterhin regen Markt eben auch der Kunstdiebstahl heftig floriere. Er stehe „nach Drogenhandel und Waffenschmuggel bereits an dritter Stelle internationaler Verbrechen. Mit über 50% werden private Sammler zu Opfern von Kunstkriminellen, gefolgt von Museen, Kirchen und anderen öffentlichen Einrichtungen. Selten sind es die Künstler selbst, die einen Diebstahl zu vermelden hätten.“ Dieser Befund spricht dafür, dass die idealistische Perspektive der Kunst weit hinter der monetären Dimension steht, man entwendet die Kunst erst dann, wenn sie durch den Markt ein Echtheitszertifikat, einen Stammbaum und eine monetäre Karriere durch Ankauf, Versicherung usw. erhalten hat.

BAGERITZ: „METAPHYSIK DES VERSCHWINDENS“ und „MOST WANTED ORT“

Konsequenterweise widmet Ralph Bageritz den entwendeten und gestohlenen Werken bedeutender Künstler die Serie „MOST WANTED ART“. Der Titel ist bereits in sich mehrdeutig, weil er sowohl auf den Status der Werke als vermisst und gesucht anspielt wie auch auf den kulturellen und ökonomischen Wert der verschwundenen Kunstproduktion. Wenn man so will, formuliert der Titel „MOST WANTED“ den Toprank, den Superlativ von Mangel, Abwesenheit und Fahndung in der Präsenz einer in sich gebrochenen Bild-Text-Montage.

Bageritz arbeitet dabei mit zweiphasigen Lentikular-Bildern, Raster- resp. Wechselbildern, hinterlegt mit Lambda-Photoprints, kaschiert auf Aluminium-Dibond. Je nach Standort des Betrachters werden entweder die schriftlichen Informationen oder die bildliche Darstellung des vermissten Werkes im Maßstab 1:1 sichtbar. Im „Wechselbild“-Effekt liegt ein instabiles Moment. Instabil insofern, als die gewöhnliche raumzeitliche Stabilität zumindest der materiellen Erscheinung von Gemälden, die dreidimensionale Kontinuität von Artefakten und Skulpturen, wie sie Tradition und Moderne in ihren Werken und in der gewöhnlichen musealen Präsentation kennen, infrage gestellt wird. Die Darstellung der Werke oszilliert zwischen völligem Bildentzug, aufflackern und vorübergehender plakativer Bebilderung, phantomhafter Anwesenheit. Und dies als rein fotografisches Dokument in der Qualität seiner Zeit, das nicht durchweg alle Details, Charakterzüge und subtilen Feinheiten des präsenten Originals im heute erreichbaren Standard enthalten kann.

Das interaktive Moment der Wechselbilder besteht darin, dass der Rezipient durch sein aktives Verhalten, durch entsprechende Position im Raum, durch Drehen des Kopfes und durch die Bewegung des Körpers, in ein kontrolliertes Verhältnis zur Inszenierung der binären Darstellung tritt. Wahlweise und zueinander alternativ, werden das konkrete Erscheinungsbild des Werkes, und das abstrakte Schriftbild der kunsthistorischen und kriminologischen Basisdaten ein- oder ausgeblendet. Der Betrachter und der Bildwechsel interagieren dabei doppeldeutig. Die jeweilige Bildphase kontrolliert die Bewegung des Betrachters ebenso sehr, wie dieser den Wechsel der angezeigten Motive beeinflusst.

Aus der Interaktion von Wechselbild und Blick, entsteht eine komplementäre Verschränkung der Aspekte: das Schauspiel eines leuchtreklameartigen An und Aus, das fortwährende Hin und Her von Darbietung und Entzug des Anreizes von „berühmter“ Kunst, im Wechselspiel mit den prosaischen Daten zum Werk, Autor, zur Institution und zum Delikt der schnöden Entwendung.

Bageritz „MOST WANTED ART“ funktioniert als doppelphasiges Phantom-, Fahndungs- und Gedenkplakat an den geschlossenen Pforten einer Welt der großen Kunst und der dunklen Begierden, und nimmt zugleich ironisch Abschied von ihr. Scheinbar mag Bageritz Arbeit aus dem semi-dokumentarischen Anlass geboren worden sein, das allgemeine Bewusstsein für den öffentlichen und privaten Schaden durch Kunstdiebstahl zu fördern. Doch Bageritz gedankliche Arbeit geht darüber hinaus.

Ralph Bageritz beschäftigt sich mit dem Kurswert der Zeichen im Kontext der bildüberfluteten Alltagswelt. Seine Kunst setzt sich sowohl mit der Lust am Schönen als auch mit den kritischen Randzonen des Ästhetischen auseinander, vermeidet dabei aber die Flucht in eine formatiert vorgedachte Sinngebung. Mittels seiner ihm eigenen ästhetischen Kritik – oder kritischen Ästhetik? – nimmt er das in den Alltag eingedrungene, abgesunkene visuelle Material, in seiner authentischen Sinnentstellung, seiner abgedroschenen Sprachlosigkeit auf, um es möglichst lebensnah und doch sorgfältig arrangiert in die Sprache der Kunst zu übersetzen. Eine Sprache, in der Vorder- und hintergründiges, Unauffälliges sich durchdringen. Eine Sprache, durch die der Kurswert der Zeichen im Alltagskontext letztlich von ihm spielerisch aber doch exakt bestimmt wird – und das bewusst ohne einer generellen Erwartungs-Kunsthaltung zu entsprechen.  © Peter V. Brinkemper / Philosoph / 2007

EXHIBITIONSHUNDE! – ALLER HAUPT- UND NEBENWELTEN! – VEREINIGT EUCH!

Für Thomas F. Fischer – von Zeit zu Zeit / Köln / 2015

von
RALPH BAGERITZ

Heilige Stadt Köln – am Ubierring – bizarr-speziell die `67er Waschbeton-Fassade von Bildhauer Ludwig Gies, mit kubistisch-hütchen(spiel)förmigen Reliefreihungen, leicht libidinös als „Busentempel“ verunglimpft – im rheinischen Volksmund…

1982: …mein erster Gang durch die Gänge der „(Hoch-) Schule für Bildende Kunst“ – (nach dem Leitbild des „Bauhauses“ als „Kölner Werkschulen“ – „im Plural“ – bezeichnet, im Jahr 1926).

Der Weg zwischen Karl Marx, Daniel Spoerri & Stefan Wewerka…, partiell graffitöse Markierungen an den Wänden diverser Räume – über weißem Porzellan – eventuell Spuren sogenannter „Junger Neuer Wilder“, aber auch die des damaligen Künstlerduos: „Fischer & Raap / Kunst & Kultur rund um die Uhr!“

Sowie plakative Hinweise zum Seminar „Kunstvermittlung“ (Wie werd‘ ich mal schnell berühmt?) von und mit Wulf Herzogenrath, dem Direktor des Kölnischen Kunstvereins, aber vor allem:

Daniel Spoerri´s selbstironisch angekündigte „Kunstgeschichte aus dem Nähkästchen“, in direkter Verwertung eines kritischen O-Tons der Kunsthistorikerin Marlis Grüterich (aus selbigem Hause).

Und Spoerri, der mir schrieb: „…ich hoffe, das wenige reicht noch!“, nach einer intensiven Diskussion inklusive seiner Materialzusendung zum Thema „Die Kunst liegt im Weglassen!“. Oder wohl eher doch im gezielten radikalen „Wegnehmen?!“ resp. „Wiedererscheinenlassen“?!, ganz im Sinne meiner eigenen bis heute stattfindenden „Annektionen“, betitelt als „Mein Recht ist dein Recht am eigenen Bild!“, die just in diesem Moment einen Werbeclip-Slogan aufgreifen, der auf PRO 7 läuft – zufällig – in Ankündigung eines Harrison-Ford-Films, frei nach dem (angeblichen) Picasso-Zitat: „Gute Künstler kopieren, große Künstler stehlen.“!:

Thomas F. Fischer treffe ich über die Jahre immer mal wieder – auf Kunstmessen, Ausstellungen, seinen Performances. Zu diesem Zeitpunkt im Kölnischen Stadtmuseum, da wo Künstlerkneipenwirt Horst Leichenich, Chef und Godfather des berühmten ROXY-Club´s, bei dem ich stets verlässlich meine überschüssig gesponserten Vernissagen-Bierfässer (Sion!) monetär verwandeln konnte, zur „Endstation“-Party einlädt.

Die ehemalige Kino-Leuchtreklame, der in tiefem blau geschwungene Schriftzug „ROXY“, ist als Reliquie ins Museum gewandert, lässt erinnern an das ehemalige Stammlokal der Kunst- & Musikszene der 80er/90er-Jahre und so einige Stellvertreter wie Sigmar Polke, Jürgen Klauke, Ulrich Rückriem oder Manni Löhe, Arno Steffen und Zeltinger, Willy DeVille, den Moody Blues und viele andere mehr…

Der übrig gebliebene harte Kern ist anwesend, heute an diesem Abend 2011 – so auch Thomas F. Fischer. Und im Moment unserer Begrüßung, trotz allen Trubels um uns herum, schießt es mir in den Kopf, dieser eine, wiederholt vorgetragene Satz in seiner Performance, frei nach August Mühling: „Froh zu sein bedarf es wenig, und wer froh ist, ist ein König!“

Damals 1983, zur Hochzeit des „Cold War & Petting statt Pershing“ war es auch eine Party, John Cage´s eigene Geburtstagsfeier und ein Festival zugleich, in der „Kunsthaupstadt“ Köln, in dieser Zeit durchaus in einem Atemzug mit New York zu nennen.

Organisiert von Ingo Kümmel, dem legendären Ausstellungsmacher und umtriebigen Spürhund für zeitgenössische Kunst, Feinauge und Vernetzer, Künstlerfreund, generöser Förderer und Unterstützer, der einem kurzerhand seine gesamte riesige Adressenkartei überließ, um im gelebten Fluxus-Sinne die Kunst unters (Sammler)-Volk zu bringen, der bargeldlos Eröffnungsreden schrieb und am liebsten selbst vortrug, es als seine „…ureigenste Domäne“ betrachtete, an „…ungewöhnlichen Orten auszustellen und die Kunstformen in spektakulären Aktionen zu vermischen.“ (Textfragmente / Eröffnungsrede: Import-Export / Neue Bilder – Alte Geschaefte / Aachener Straße 33 / Köln 1986)

Ingo Kümmel lädt Thomas F. Fischer für diesen Abend zur Durchführung einer Performance ein, gibt ihm den Freiraum für einen Auftritt, der stattfinden soll mittendrin im versammelten internationalen Künstlerszenario, in Kümmels Graffiti-Kunsttempel „Stollwerck“, einer ehemaligen Schokoladenfabrik, Kulminationsort für junge Kunst in der Kölner Südstadt. Innerhalb der weitläufigen Produktionshalle, in einigen Metern Höhe, mit einem leinenartigen Stoff umhüllt, erscheint der Künstler auf der Empore, vorerst nur den Kopf mit schwarz verglaster Brille freigebend, dann den Umhang öffnend und an einem käfigartigen Geländer stehend – dem früheren Zugang zur angrenzenden Halle, von wo aus die damalige Süßwarenproduktion überwacht werden konnte:

Und skandiert dieses scheinbar so banale, aus Kindertagen bekannte im Kanon gesungene Lied. Eine Volksballade für das Kunstpublikum als kultische Dienstleistung, vorgetragen ähnlich einer Liturgie, im gleißend harten Licht des auf ihn gerichteten Spotlights.

Fischer´s einsetzender gospelartiger Sprechgesang, sein kratzig sperriger Singsang-Sound, aus dem man unschwer den Rheinländer heraushört, durchdringt die Geräusche der versammelten Künstlerpartymasse, ohne übertönen zu wollen. Mal klar, rauh und kühl ironisch distanziert, vorgetragen ohne das geringste Pathos, dann wie ein langsam aufflackerndes Licht, das sich zur emotionalen Stichflamme steigert, mit brachialer Wucht. Magische Momentaufnahmen in Serie. Im Gesamtverlauf des Abends werden Stimme und Körper zur vertikalen Einheit, in eindringlicher Präsenz. Minimalistische Vollblutkunst – auf das Wesentliche reduziert, im Gesamtbild von zeitloser Schönheit.

Und so klingt sie mir immer noch im Ohr, zweiunddreißig Jahre später, diese eine Zeile: „Froh zu sein bedarf es wenig, und wer froh ist, ist ein König!“

Social-Media-Post in Erinnerung an den Zeichner & Performancekünstler Thomas F. Fischer (* 4. Februar 1954 in Köln / † November 2019) / inkl. Photoportrait: Momentaufnahme während eines Besuchs – ein Ausschnitt – um 90 Grad nach links gedreht / © Bageritz Berlin / 2015

BAGERITZ: LOST IN CHINA – SHOW ME THE WAY TO AI WEIWEI!

von

PETER V. BRINKEMPER

Nachdem Part II der von Bageritz in Tokio geplanten Aktion IN THE BEGINNING THERE WAS THEFT – gecancelt wurde (aufgrund der Atomkatastrophe in Fukushima) führt ihn der Weg nun nach China resp. Shanghai. In direktem Bezug auf vorangegangene Ausstellungen und Werkzyklen zum Thema METAPHYSIK DES VERSCHWINDENS / STOLEN OBJECTS / DIE AUFRICHTIGKEIT DES KUENSTLERS AM ENDE DES XX. JHDTS., begibt sich Bageritz mittels einer Plakat-Aktion auf die Suche nach dem chinesischen Künstler Ai Weiwei, der seit seiner Festnahme am 3. April verschwunden ist (THE ABSENCE OF SUBJECT). Bageritz, seit jeher auch Plakatkünstler, überarbeitet vor Ort aus dem Internet heruntergeladene Ai Weiwei-Portraits mit seinen für ihn typischen Textparolen und Slogans wie z.B. SHOW ME THE WAY TO AI WEIWEI oder WENN SCHON DEMOKRATIE LUSTIG IST… (im Beuys´schen Sinne), gestaltet die Suchmeldungen farblich als „eye-catcher“, signiert mit e-mail- und facebook-Adresse, dokumentiert photographisch. Ähnlich wie bereits 1995 von Hans-Werner Bott im Katalog DAS MITTEILUNGSBEDUERFNIS DES HERRN RALPH BENNO ALBERT BAGERITZ (11 Jahre Ehrenstrasse & Umgebung) beschrieben, wird auch diese Mitteilungskampagne konzeptuell im Zusammenhang mit seinen frühen „Streetart“-Aktionen stehen, wo er in und auf den Straßen agierte (STADT-RAUM-BILD / DEUTSCHLANDS LIEBLING IST MUEDE): „Den Bageritz lese ich seit ´88 im Strassenbild, wo er mich durch das Ausschwemmen von Bedeutung und wiederholtem Gebrauch der Werbe- und Vermittlungssprache als Kunsttext an das ungefähre Erinnern der Wirklichkeit erinnert. Die Umtriebigkeit des Künstlers auf dem Boden kapitalistischer Raubwirtschaft ist ihm Untersuchungsfeld…“ (s.a. nachfolgenden Text v. Marianne Saul, Ausstellung AM ANFANG WAR DIEBSTAHL/ Part I, Gummersbacher Kunstverein, 2011). Bageritz folgt mit seiner Kunstaktion dem Prinzip der Um-verkehrung, einer konzeptuellen Hinterfragung mit Mitteln der bildnerischen und textlichen Konfrontation, des (unfreiwilligen) Witzes im Bezug zum Realen (z.B. die Werbethesen der vorgefundenen Billboards im Stadtzentrum). Diese Situation lässt das Absurde und Aberwitzige erkennen, in einer wohl aussichtslosen Suche nach dem verschwundenen Künstler, dem STOLEN SUBJECT in den Mythos geschwängerten Straßen Shanghais, auf streng totalitärem Gebiet, mit ungewissem Ausgang. Aber dennoch ist es ein Weg – fernab vom voraus eilenden Gehorsam – und Bageritz weiß, dass sein Tun nur eine kleine Geste sein kann – der Anerkennung, der Anteilnahme und Solidarität für einen von ihm überaus geschätzten Künstler. / © Peter V. Brinkemper / Philosoph / 2011

SHOW ME THE WAY TO AI WEIWEI – THE VANISHED SUBJECT!

Unautorisierte Plakat-Aktion im öffentlichen Raum / Shanghai-City / Museum of Contemporary Art Shanghai und PPAC – Chinese Propaganda Poster-Art Centre Shanghai

von
JÜRGEN RAAP

„Ralph Bageritz, Berliner Künstler, machte in Shanghai Bekanntschaft mit der chinesischen Polizei, als er dort seine Aktion „Show Me The Way to Ai Weiwei“ durchführte. Am letzten Tag seiner mehrtägigen Aktion im öffentlichen Raum wurde er beim Plakate Kleben erwischt und verhaftet, musste anschließend „sechs Stunden Verhör im Knast“ über sich ergehen lassen. Bageritz zum „Kunstforum“: „Glücklicherweise bin ich nicht durchsucht worden – in meiner Umhängetasche befanden sich nämlich noch ca. 20 Plakate. Hätte man die gefunden, wäre ich wahrscheinlich komplett untersucht worden und heute noch nicht zurück in Deutschland – so fand man den Chip nicht, den ich im Mund versteckt hatte. Es war exakt wie in einem Krimi. Ich konnte alle Fotos und somit die Aktion retten.“ / © Jürgen Raap / Kunstkritiker / Magazine „KUNSTFORUM international“ Bd. 210 / „Personalien“ / 2011 / CN

AM ANFANG WAR DIEBSTAHL – / …WAR (HILDE STAB) – THEORIE UND PRAXIS

(Bild- und Austellungstitel nachträglich überarbeitet / 2018)
Oberbergischer Kunstverein Gummersbach / Eröffnungsrede / 27. 3. 2011

von
MARIANNE SAUL

Wenn Bageritz behauptet, mit Diebstahl fing alles an, stelle ich mir unwillkürlich die Frage, was kam danach als man uns aus dem Paradies herausgeworfen hat? Landläufig sagen wir, „Aller Anfang ist schwer“, aber haben Sie schon mal darüber nachgedacht was gewesen wäre, wenn wir das Paradies hätten nicht verlassen müssen? Also ich stelle mir das recht langweilig vor. Es wäre nichts entstanden. Wir hätten keine Probleme diskutieren müssen. Es hätte keine Konflikte gegeben, keinen Streit! Aber auch keine Lösungen! Unvorstellbar fad wäre unser Dasein. Natürlich gäbe es keine Künstler, die uns ja auch mit ihren Werken Problemlösungen anbieten! Und folglich nicht diesen Bageritz. Wir stünden nicht hier! Und hätten keine Gelegenheit uns von seinen Arbeiten inspirieren zu lassen. Mit dieser frohen Botschaft heiße ich Sie ganz herzlich willkommen zu unserer Retrospektive seiner Portrait-Arbeiten!

Tatsächlich ist aber für Bageritz der Diebstahl als solcher von hoher Bedeutung. Seit Mitte der achtziger Jahre kreist sein Werk um dieses Thema, dem er sich mal im wörtlichen Sinn, dann wieder metaphorisch widmet. Die Serie der „STOLEN OBJECTS“, der „gestohlenen Objekte“ zeigt uns dies deutlich.

Zum Beispiel entwendet Bageritz 23 Parkpoller der Stadt Köln und erklärt sie, eingegossen in einen Betonfuß, zu Stolen Objects innerhalb seiner Serie, apostrophiert als die „ALLGEMEINE SCHWUNDQUOTE“, oder klaut Waren bei KARSTADT. Diese integriert er in seine Bilder. Er zeigt sich selbst an. Die Stadt Köln macht ihm den Prozess, Karstadt macht mit Bageritz eine Ausstellung.
Später erweitert er seinen Radius und kommt uns mit der Aufforderung „STEAL MY IDEA“, „COPY MY RIGHT“, „MEIN RECHT IST DEIN RECHT AM EIGENEN BILD“ in dadaistischer Tradition daher, um die vorherigen DIEBSTAHL-AKTIONEN quasi demokratisch, hier ist jeder gefragt, jeder kann sich einbringen, ad absurdum zu führen. Warum diese Aktionen? Ich glaube er will er den Teufel mit dem Beelzebub austreiben? Und vielleicht sollten wir an dieser Stelle einen Moment über den Sinn des Diebstahls nachdenken.
Um einen DIEBSTAHL ausführen zu können braucht es EIGENTUM. Denn EIGENTUM ist die Voraussetzung für DIEBSTAHL. EIGENTUM ist etwas was MIR gehört und nicht dem Anderen. EIGENTUM hat somit zwei Eigenschaften: 1. Es trennt mich von meinem Nächsten der vielleicht Nichts besitzt. 2. Es produziert UNGLEICHHEIT.
Was aber bewirkt UNGLEICHHEIT? Im besten Fall streben nach GERECHTIGKEIT, hinzielend auf eine ANGLEICHUNG. Im schlimmsten Fall NEID und der DIEBSTAHL ist nicht weit.
Eine Gesellschaft die das Recht auf EIGENTUM anerkennt, akzeptiert folglich UNGLEICHHEIT und in der Konsequenz muss sie mit DIEBSTAHL leben.

Ein radikaler Gedanke? Ich frage Sie! Stellen Sie sich vor es gebe dieses EIGENTUM nicht und Jedem von uns würde ALLES gehören, weil wir doch sowieso alle voneinander profitieren. Bedenken Sie wo wir wären, hätten wir keinen Einstein gehabt, keine Maurer, keine Schreiner die uns Tische und Stühle bauten, keine Ingenieure die unsere Ideen umgesetzt hätten? Wo wären wir ohne all diese Erfindungen, ohne diese unendliche Kreativität, die wiederum aufbaut auf vorherigem Wissen. Ständig wurde weiterentwickelt was davor schon jemand entdeckte. Summa summarum, ohne die Mithilfe des Andern sind wir nicht lebensfähig!
Aber warum dann EIGENTUM? Warum leben wir in einer Gesellschaft die dieses Ordnungsprinzip hoch hält und damit den DIEBSTAHL einkalkuliert?

Diese Überlegungen könnten den Bageritz´schen Aktionen vorausgehen. (Eine Frage der Ralph Bageritz in seinen Arbeiten immer wieder nachspürt.) Wir hier Anwesende, in der Betrachtung seiner Werke und Möglicherweise mit der Bereitschaft sich auf diesen Gedankengang einzulassen kommen nicht umhin daraus zu folgern, dass der Begriff des Diebstahls ein systemimmanenter ist und Bageritz der einmal von einem Kunstkritiker „als 100% iges Kind der kapitalistischen Gesellschaft“ bezeichnet wurde, begibt sich geradewegs in die Höhle des Löwen, wenn er sich in seinen Kunstaktionen des DIEBSTAHLS in seiner ganzen Tragweite annimmt.
Nicht ohne Sarkasmus betitelt er seine Selbstanzeigen, als „DIE AUFRICHTIGKEIT DES KUENSTLERS AM ENDE DES 20. JAHRHUNDERTS“ und stellt für mich das ganze System in Frage wenn er mit der 2001 entstandenen Serie „METAPHYSIK DES VERSCHWINDENS“ sein großes Thema „AM ANFANG WAR DIEBSTAHL“, mit Witz und Ironie erneut aufgreift.

Was hat es mit der „METAPHYSIK DES VERSCHWINDENS“ auf sich? Wiederum geht es um Diebesgut. Ihn beschäftigt der Kunstraub. Doch dieses mal schlägt sich Bageritz auf die andere Seite. Dem ART LOSS REGISTER, eine Organisation die weltweit nach gestohlenen Kunstobjekten forscht, bietet er seine Hilfe an. Aus den beim ART LOSS REGISTER hinterlegten Kopien der gestohlenen Werke, lässt er jeweils ein 2-phasiges Lentikularbild herstellen und präsentiert seine Serie dem Rezipienten mit dem Hinweis, dass die gestohlenen Kunstwerke wieder aufgetaucht sind. Es komme nur auf den Standort an. So zu sagen frei nach dem bekannten Lied, „SAG MIR WO DU STEHST“, und um im Bageritz´schen Sprachduktus zu bleiben wäre die „METAPHYSIK DES VERSCHWINDENS“ seine ERSTE BILDERSERIE ZUR PRAKTISCHEN MITARBEIT denn das Erleben der „METAPHYSIK DES VERSCHWINDENS“ setzt die Bereitschaft zur Veränderung voraus.

Sie liebe Mitglieder und Freunde, Sie können es gleich ausprobieren. Stellen Sie sich vor die Arbeiten und bewegen Sie sich, verändern Sie Ihren Standort und Sie erleben die 1. Stufe der „METAPHYSIK DES VERSCHWINDENS“. Das Diebesgut erscheint und wahrscheinlich ist es gleich wieder verschwunden. DADA lässt grüßen! Die 2. Stufe der „METAPHYSIK DES VERSCHWINDENS“ bedarf zwar keiner äußeren, wohl aber einer geistigen Veränderungsbereitschaft. Wir werden angehalten uns von Verlorenem zu trennen und Neues anzuerkennen. Mit der „METAPHYSIK DES VERSCHWINDENS“ fordert Bageritz von uns den NEUSTART. Ein NEUSTART der bedeutet, sich dem was jetzt da ist zu öffnen und z. B. einen Warhol, der hier mit seinen Lenin- und Mohammed Ali-Portraits vertreten ist, im wahrsten Sinn des Wortes, mal Beiseite zu schieben. Das Alles kennen wir doch zur genüge, scheint Bageritz uns zu sagen. Und dennoch, gerade durch seine Zitate die erscheinen und verschwinden entsteht diese besondere Dialektik zwischen Altem und Neuem, zwischen Bekanntem und Unbekanntem. Das Eine bedingt das Andere, das Zweite wäre ohne das Erste nicht entstanden.
Wir profitieren doch alle voneinander… will Bageritz uns das sagen? Die „METAPHYSIK DES VERSCHWINDENS“ fügt beides zusammen. Sie zeigt die positive Seite der Abhängigkeit des Einen vom Anderen und schafft mittels des Lentikular-Effekts auf spielerische Weise neue ästhetische Symbiosen.
Sie erinnern sich. „Wo wären wir ohne all diese Erfindungen, ohne diese unendliche Kreativität, die wiederum aufbaut auf vorherigem Wissen. Summa summarum, ohne die Mithilfe des Andern sind wir nicht lebensfähig!“

Ich könnte jetzt noch einiges dazu sagen, z. B. dass ich in Bageritz einen modernen DADAISTEN sehe, weil diese und viele seiner Arbeiten in dieser Tradition stehen. Wir haben das Manifest ausgedruckt, vielleicht haben Sie es schon gelesen, wenn nicht, nur ganz kurz: Die DADAISTEN gründeten sich 1916 als literarisch-künstlerische Bewegung. Sie verkündeten in ihrem MANIFEST 1918, es gelte, „…mit allen Mitteln der Satire, des Bluffs, der Ironie, am Ende aber auch mit Gewalt gegen diese Kultur vorzugehen“, gegen den „…Wahnsinn der Zeit“, womit sie die herrschende Politik, den Militarismus und die etablierte Kunst meinten. Die besten und unerhörtesten Künstler werden diejenigen sein, die stündlich die Fetzen ihres Leibes aus dem Wirrsal der Lebenskatarakte zusammenreißen, verbissen in den Intellekt der Zeit, blutend an Händen und Herzen“. Das ist knallig, nicht wahr? Die waren damals nicht so cool. Ich bin mir auch nicht sicher ob der Ralph Bageritz sich so sieht. Aber es genügt vielleicht an dieser Stelle, dass ich ihn so sehe. Heute würde man so ein Manifest sprachlich sicher anders verfassen. Aber das was die DADAISTEN inhaltlich forderten ist von zeitloser Schönheit.

Ich sprach ja Eingangs von einer Retrospektive seiner Portrait-Arbeiten und tatsächlich hat uns Bageritz seine erste Zeichnung von 1963 mitgebracht. Da war er gerade mal 5 Jahre alt als er diesen Clown porträtierte. Ein wenig melancholisch wirkt er, wie es Clowns ja oft sind. Clowns sind komische Moralapostel. Die schwarze Hautfarbe…. ein Außenseiter? Wie es Künstler oft sind. Ein Selbstportrait? Könnte sein!? Das Clowneske, der Schalk, das Hintergründige, das Ironische tritt in den Arbeiten von Bageritz immer wieder hervor und so kommt es nicht von ungefähr wenn er seine Zeichnung mit dem Titel belegt, „Ich war mit fünf schon MULTIKULTI“. Manchmal bleibt einem jedoch das Lachen im Halse stecken. Seine Serie „GREATEST ARTIST OF THE 20TH CENTURY / WIE UNVERKAEUFLICH KANN KUNST SEIN?“ Ich meine – allein der Titel ist schon wieder so komisch – und dennoch, mit den HITLER-PORTRAITS wagt sich Bageritz (bereits) 1986 an ein heikles Thema. Dürfen wir uns über Hitler lustig machen? Frech wie der Bageritz ist, tut er es einfach. Basta! möchte er sagen. Jetzt denkt einfach darüber nach! Wie unverkäulich kann Kunst sein?“

Eben, hier geht es nicht ums verkaufen. Seit 1986 sind die Bilder in meinem Besitz und ich werde sie immer wieder zeigen! Ja, ich will Euch provozieren, damit ihr dieses dunkle Kapitel unserer Geschichte nicht vergesst! So hätte der Bageritz es sagen können.

Mit 10 Jahren verehrte er JIMI HENDRIX, und hätte gern sein Zimmer mit einem Poster seines Konterfeis geschmückt. Als er ein kleines Foto des Gitarristen in der Zeitung sah griff er zu Pinsel, Farbe und Papier und schuf sich ein eigenes Bild seines Heros.
Diese Arbeit bezeichnet Bageritz im Ergebnis als Stunde Null. Als der eigentliche Beginn, seines Bewusstseins für Kunst. Folgerichtig begann er, nach einem 2 jährigen Studium der Kunstgeschichte und Philosophie, 1982 bei Daniel Spoerri an der FHS Köln für Kunst und Design und parallel an der Düsseldorfer Kunstakademie ein freies Kunststudium. 1985 initiiert er seine erste Ausstellung. Er präsentiert seine Arbeiten in einem Sex-Shop in der Kölner Ehrenstraße oder in Hamburg auf der „Großen Freiheit“. Er ist antiautoritär, nicht etabliert, ich sehe ihn in dieser Zeit als Streetworker, der die Kunst auf die Straße bringen will, in den Alltag, da wo sich Leben abspielt, dort wo Leben beginnt.
Früh erkennt er die Zeiten der Globalisierung als er 1986 in einem Im- und Export-Laden seine Arbeiten unter dem Titel „NEUE BILDER – ALTE GESCHAEFTE“ ausstellt. Der legendäre Kölner Galerist Ingo Kümmel, sprach auf der Eröffnung von (ich zitiere) „…neuen Ordnungsresultaten die mit jener Emanzipationsbewegung verschmelzen, die die Kunst aus ihrem elitären Reservoir befördert, die Kunst aus seiner kulinarischen Normierung herausreißt und sie zu einem gesellschaftskritischen, zeitbezogenem Problembewusstsein erweitert.“ Im Sommer ’88 reist Bageritz in die DDR und verarbeitet seine Reiseeindrücke in Bildern die im Sommer 1989 mit mäßigem Erfolg in der Kölner Galerie ERNESTO + KRIPS gezeigt werden. Bageritz erhält eine Förderkoje auf der ART COLOGNE und sein Galerist stellt die Bageritz´sche Deutschland-Serie  „DER AUSFLUG NACH BAGERITZ MIT ABSTECHER NACH BASELITZ“ dort aus. Am 9. November ’89 fällt die MAUER, zwei Tage später ist Messeeröffnung der ART in Köln. Schon am nächsten Tag sind die Bilder von Bageritz ausverkauft. Es folgen diverse Preise und jede Menge Ausstellungen bis heute.

Vielleicht sollte ich noch kurz auf die Bageritz´schen Silikonbilder eingehen. Mit diesem eher ungewöhnlichen Malstoff arbeitet Bageritz seit einigen Jahren. Anfangs nur marginal genutzt, mutiert das Silikon aktuell, in unterschiedlichen Farben, flächendeckend über ganze Leinwände. Bageritz hat es zu echter Könnerschaft gebracht wenn er in pointillistischer Manier unsere verehrte Frau Bundeskanzlerin portraitiert wie sie den Himmel, ob ihrer undefinierten Politik um Gnade anzuflehen scheint. Silikon, der Kunststoff, steht für unsere Plastikwelt, für eine Kunstwelt, die uns Menschen verkünstelt, sie entfremdet von natürlichen Gegebenheiten. Bageritz drückt mit dem Kunststoff Silikon unserer Zeit den Stempel auf. Mach mal ’nen Punkt! Will er vielleicht sagen…!
In seiner jüngsten Serie treibt Bageritz das Thema „AM ANFANG WAR DIEBSTAHL“ wieder in DADAISTISCHER Tradition auf die Spitze. Er verarbeitet exakt kopierte Fälschungen des chinesischen Shootingstar-Malers YUE MINJUN, der durch seine schrill lachenden Chinesen zu Weltruhm gelangt ist.
Die von Fließband-Billigkopisten in Öl auf Leinwand gemalten Original-Motive, erwirbt Bageritz in einem China-Dekoshop, sozusagen als Künstler, Kurator und Sammler in einer Person. In einem Prozess des Aneinanderfügens von eigenen Texten und hinzu gemalten Motiven entsteht eine collageartige Bildmontage die wiederum gesellschaftliche Regeln und Prinzipien von MEIN UND DEIN von GEBEN UND NEHMEN hinterfragt und sie gleichzeitig ad absurdum führt…
„AM ANFANG WAR DIEBSTAHL“ aktueller kann Kunst nicht sein, stand in unseren Pressemitteilungen. Fatalerweise gab uns das katastrophale Weltgeschehen in einer (auch in dieser) !!!! Hinsicht Recht. In unmittelbarer Folge sollte dieser hier in Gummersbach gezeigten Ausstellung eine weitere Aktion in Tokio folgen. Daraus wird nun nichts, aber sein Weg führt Bageritz weiter – wahrscheinlich nach China…
SHOW ME THE WAY TO AI WEIWEI. / © Marianne Saul / Autorin / 2011

AUF DIE FAEHRTE LOCKEN ODER EINE AESTHETISCHE ERINNERUNGSSPUR

„DIE KLINGELBILDER VON RALPH BAGERITZ“

von
BARBARA HOFMANN-JOHNSON

„Ein Zeichen sind wir, deutungslos

Schmerzlos sind wir und haben fast

Die Sprache in der Fremde verloren.“

(HÖLDERLIN / Mnemosyne)

Die Unübersichtlichkeit der Massenkultur, die in Phänomenen wie dem Überfluss und der Schnelllebigkeit der Warenwelt, der Reiz- und Bildüberflutung der Medien ihren Ausdruck – und in der Urbanität des modernen Großstadtgefüges ihren infrastrukturellen Nährboden findet, stellen für den modernen Menschen eine besondere Herausforderung dar, die Frage seiner historischen Identität – sofern sie sich ihm stellt – anzugehen. Der selektive Blick und die individuelle Zuordnung der Dinge und Erlebnisse für den eigenen Lebensraum bieten Chancen, den Begriff der Zeit zu personifizieren. Eine ästhetische Umsetzung liefert darüber hinaus die Möglichkeit zu einer weitläufigeren Verbindlichkeit.

In den 1993 entstandenen Werkbeispielen photographischer schwarz/weiß Arbeiten isoliert der in Köln lebende Künstler Ralph Bageritz ein Wiederholungsmuster, ein Ornament des städtischen Lebens aus seinem gewöhnlichen Erscheinungsbereich und auratisiert mittels ästhetischer Interpretation dessen scheinbar ausweglos anonymes Schicksal. In der seriellen Anordnung von Klingeln und den ihnen zugeordneten Namensschildern, wie man sie von Hoch- und Mietshäusern her kennt, entdeckt er die Abstraktion eines modernen Lebensgefühls, die formalisierte Reduktion einer Komplexität von existentiellen Fragestellungen nach Ansässigkeit, Identität, Schicksal und sozialem Umfeld, die er durch seine künstlerische Vorgehensweise zu interpretieren sucht.

Die Zivilisationskritik des ausgehenden 20. Jahrhunderts hat den Vorstellungen des aufgeklärten Bürgertums und den Utopien der Arbeiterbewegungen mit deren Idee eines sozialen Wohnungsbaus im Rahmen einer urbanen Heimat längst ein kritisches Psychogramm erstellt. Die Mietskasernen, die Vielzahl moderner Hochhausbauten und die Wohnhäuser mit Single-Appartments zeugen mehr von Vereinsamung als von der Möglichkeit zur Kommunikation und sozialer Gerechtigkeit. Das Persönliche verschwindet hinter einer Menge von Namensschildanordnungen und den dazu gehörenden Klingeln, die zum Kontaktmedium werden sollen, häufig jedoch lediglich dem Rost und der Witterung ausgesetzt sind. Belanglos scheint häufig die Existenz und die Ansässigkeit des Einzelnen in der städtischen Kultur, die vor allem durch Fluktuation bestimmt ist.

Als Fragment vergrößert und zum Bildgegenstand erhoben, erscheinen die Reihungen von meist runden Klingelknöpfen mit den parallel zugeordneten rechteckigen Namensschildern in den Photoarbeiten von Bageritz jedoch als formschöne Besonderheiten und werden so ihrer aktuell möglichen sozialen Last entledigt, ohne sie nicht gleichzeitig auch denkbar werden zu lassen. Hierzu trägt neben der graphischen Präzision die schwarz/weiß Ästhetik der Werkgruppe bei, die den Einzelbildern mehr eine historisierende Aura als anachronistische Trostlosigkeit verleiht. Vor einem dokumentarischen Anliegen erweist sich die Photographie als Komplize bei der Sicherung einer ästhetischen Spur, die in den Klingelknöpfen und den Namensschildern nicht den realen Gegenstand, sondern ein atmosphärisches Zeichen des modernen Großstadtlebens zu sichern weiß. Die braun getönten Balken – sie variieren je nach Serie farblich – die Bageritz den Namen überlagert hat, liefern die dahinter sich verbergenden Personen nicht gleichzeitig der Öffentlichkeit aus oder potenzieren das Problem der Anonymität, sondern gewähren Schutz und sichern wie die Mathematik, die nicht nur bloßes Zeichen zu sein braucht, das Geheimnis einer „großen Unbekannten“, mit der meistens nur Kinder in ihrem persönlichen Krimi Kontakt aufzunehmen wagen, um sich dann schnell davonzustehlen. Die sonst auch mögliche allegorische Lesart des „blockierten“ Namens als Verweis auf eine psychische Konstitution des zu bezeichnenden Individuums ist zwar darüber hinaus eine sehr moderne und selbstverständlich auch realistische Lesart, sollte dem formalen Gefüge der Klingelbilder jedoch nicht zu bedrohlich werden.

Das moderne städtische Leben hat mit der Vision einer neuen Welt auch den Menschentyp des Flaneurs sozialisiert. Dieser bummelt durch die Straßen eines scheinbar demokratisierten Lebensraumes, in dem ihm die Mietshäuser, Stockwerkbauten und die Häuslichkeiten der freien Marktwirtschaft die Gleichberechtigung der Parzelle versprechen. Der Flaneur nutzt sein Persönlichkeitsrecht, welches ihm erlaubt, seine Wahrnehmung der Dinge zu einem historischen Moment, zu Spuren seiner Geschichte werden zu lassen oder sogar im Raum der Kunst zu auratisieren. Denn, das moderne städtische Leben hat vor allem den Künstler zum Flaneur werden lassen, der seine Sicht auf die Dinge zu formalisieren sucht. Seit der künstlerischen Avantgarde der Dadaisten und Surrealisten in den 20er und 30er Jahren hat diese Vorgehensweise Tradition und provoziert über sich hinausweisende Reflexionen, die Fundstücke und Aspekte des alltäglichen Lebens
historisch bedeutsam zu nobilitieren vermögen.

Die Klingelbilder von Ralph Bageritz locken auf diese Fährte des Aktionsraums urbaner Spurensicherung und nähern sich mittels formaler Abstraktion, die im Gegenstand selbst entdeckt wird, dem komplexen Bereich sozialer Fragestellungen.

© Barbara Hofmann-Johnson / Kunsthistorikerin / 1994 / Leiterin Museum für Photographie Braunschweig / 2021

BAGERITZ UND BAGERITZ – KÜNSTLER TREFFEN KUNDEN

von
HANS-WERNER BOTT

Wenn Bageritz ein Jubiläum feiert, ein elfjähriges, so sollte dies die Handelskammer würdigen… schöner Aufmacher, Breitseite im Hochglanzgeschehen Markt & Wirtschaft. Mir erscheint die Kunstfigur Bageritz als sein ureigenstes (das wird zu prüfen sein) PR-Unternehmen und das des Klein- und Großhandels rund um die Ehrenstraße samt anliegender Buchhandels- und Galeriebetriebe, denen er mitunter jene Erlebnisdimension verleiht, die sich wünscht, wer in ihren Mühlen steckt: Humor und Abenteuer. Die Betriebsamkeit dieser Betriebe und die ihrer Betreiber und besonders die Bestrebungen der Künstler als Unternehmer, Eingang zu finden in die Warenwelt, regen ihn an, diese doppelte Betriebsebene zu schaffen, die ihre Materie als doppelbödig und ihre Objekte als hinterlistig ausweist. Ein Gefühl, das die „Stolen Objects“ etwa, der als Diebesgut ausgewiesenen gerahmten Beute, zuerst dem Dieb in die Hand und dann dem Kunsthändler in die Vitrine tragen.

Ich habe so ein Ding auf dem Tisch und denke: dies ist, da hilft kein mystischer Schrott in den Köppen, das post-magische Zeitalter, 20 x 15 x 3 cm, Topfreiniger, originalverpackt. Aufschrift gelb/schwarz: STOLEN OBJECT, 1991. Was KODI oder ALDI da unter Wareneingang im Minus haben buchen müssen, können sie unter PR getrost im Plus buchen. Für den privaten Kunstgenuss scheinen die Objekte nicht gemacht, gemacht scheint nur der simple Rahmen, der Rest ist von einer anderen Welt (der doppelten), aber im öffentlichen Auge gewinnen sie ungemein. So hatte ich die Objekte eben auch mit meinem Gemischtwarenhandel für Multiples auf der ersten (und für mich letzten, denn danach ging´s ja ab in die Messehalle Köln) Art Multiple in Düsseldorf herzeigen dürfen, zusammen mit dem geschätzten Reliquien- und Postkartensammler Sigi Sander aus Castrop oder Herne (der weiß, wo die Wurst gemacht wird). Ein Umstand jedenfalls, der eine Kasperlei zwischen Professor Timm Ulrichs und Ralph Bageritz inszenieren half, wie sie mir kurzweiliger unter der Rubrik geistiger Diebstahl und Ideenklau noch nicht vorkam und die den Glanz, den die GESTOHLENEN OBJEKTE im Kunstkaufhaus eh erhielten, noch hob. Professor Ulrichs fühlte sich bestohlen, um´s Urheberrecht geprellt und schrieb in einem Rundbrief nebst Plakat und Belegmaterial: „…Ich bin ja manches gewohnt, aber dass jemand die Idee meiner gestohlenen Objekte mir stiehlt, ist sicher der Gipfel der Dreistigkeit – nicht aber der Ironie, wenn man so will: denn das hätte bedeutet, meine Priorität nicht zu unterschlagen, sondern – auf ihr aufbauend – sie zu übersteigern. Ihnen gelingt aber überhaupt nicht, meine Arbeit weiterzudenken; Sie wiederholen nur exakt, was ich vor zwanzig Jahren vorgemacht habe. Und wenn Sie nun schreiben, dass „…wir ja alle wissen – Geschichte wiederholt sich (…) zeugt das nur davon, dass Sie zu den Wiederkäuern gehören…“

Was ja übrigens, siehe Eva Meyers Aufsatz im Kunstforum Nr. 114 über die „Form der Wiederholung“, durchaus ein ehrenwerter Einstieg in eine Kunsttheorie wäre, aber da kommt ja nun zu den Untaten der Assistenten, dies ist die Abteilung im Bageritzschen Imperium, die für die Ausführung von Planbeispielen zuständig ist, immer noch die Tat des Herrn Bageritz, sozusagen der Kopf des Unternehmens, hinzu, der Plakate drucken und Texte verfassen lässt, wenn er´s nicht gar selber macht, die das Ereignis kommentieren und zusammen mit den Objekten als Belege gelten müssen für die Ausstellung einer Tatidee, die eine Legende schaffen will aus einer Textur, die letztlich das Ding als Gedicht entlässt (eine Behauptung, die sich leicht schreibt, die aber letztlich und zum Schluss die Schimpf-/Blumenbilder beweisen).

Die Tat des Herrn Ulrichs, der ja in den Sechzigern ganz naseweis aus einem Schaukasten guckt, ein Foto, das gerne überliefert wird, um einen gewissen dreisten Witz und Schlagfertigkeit als haltbar erscheinen zu lassen, mag urheberrechtlich geschützt sein (wir bewundern den Einfallsreichtum und die Vielfältigkeit des genialen Professors nach wie vor, aber wir wissen, daß diese Witz- und Schlagfertigkeit eben nicht gehalten hat). Der Tatendrang des Herrn Bageritz aber ist ein ganz anders getriebener und ein auch geschichtlich erheblich abweichender, denn noch immer und zehn Jahre später agiert er auf und der Straße lang. Die wo auch immer angeregte Geschichte entdeckt er als seine und verfolgt sie als sein Vertreter. So lieben wir ihn, im Unterschied zur Schwarz-Weiß Erscheinung des schon archivierten und arrivierten Künstlerlehrers, als ein Produkt unserer Zeit ganz auf Farbechtheit angelegt: blauäugig, braungebrannt und „Blond geboren“ wie ein Bildtitel behauptet.

Frohsinnig und leichthin fragt er deshalb beim Lehrkörper der Akademie Münster an:

„Wie mir über Paszti-Bott mitgeteilt wurde, bin ich scheinbar nicht der erste, der auf die glorreiche Idee des Gestohlenen Objekts gekommen ist. Versichern kann ich allerdings, dass die Idee dazu, sich durch vorangegangene Arbeiten zum Thema „Konsum – dem Gegenstand an sich“ entwickelt hat. Aber dennoch: läge es nicht im Sinne der Sache, die Idee der STOLEN OBJECTS, wiederum zu stehlen?? Der Zufall hat´s bewirkt… P.S. Gibt es noch f r ü h e Stolen Objects und wenn ja, könnten wir vielleicht einige tauschen?????“

Als Überzeugungstäter bleibt Bageritz seinem gesellschaftskritischen Entwurf treu, macht sich vor allen Dingen keinerlei Illusion über die Realität, die überall Markt ist und in der immer alles doppelt und dreifach verzahnt und verlagert ist, entwickelt gerade aus diesem Umstand eine Position der Bewegung, der Verantwortung und des Gebens, während der schöpferische, begabte, ausdrucksstarke und visionäre Ulrichs (die Nachfragen der Akademien und Kunsthallen befriedigend) eine Position der Verhärtung und Starre und Illusion bezeugt, der er mit Recht und schließlich berühmt auf der Kasseler Nekropolis erliegt, wohin ich pilgern muss, wenn ich lesen will, wovon der Künstler kündete.

Den Bageritz lese ich seit ´88 im Straßenbild, wo er mich durch das Ausschwemmen von Bedeutung im wiederholten Gebrauch der Werbe- und Vermittlungssprache als Kunsttext an das ungefähre Erinnern der Wirklichkeit erinnert. Die Umtriebigkeit des Künstlers auf dem Boden kapitalistischer Raubwirtschaft ist ihm Untersuchungsfeld. So hat ihn mal jemand ein 100% iges Kind der kapitalistischen Gesellschaft genannt und er hat sich damit einen Plakattitel geschrieben. Diese Plakattitel haben überhaupt eher den Charakter des Gefundenen oder, wie Boris Nieslony das nennen würde, des Entwendeten. So ist das ICH des Ralph Bageritz, zumindest das Künstler-Ich, ja nicht unbedingt bei ihm selbst zu Haus, sondern ein wanderndes, das den Schlupfwespen gleich, gerne da und dort wohnt und hervorkommt. Und ich sehe da durchaus eine Autorenschaft, die die Öffentlichkeit ausbrütet und der Künstler verwaltet. Die Titel erzählen das:

Bageritz – Import – Export. Abtransport einer Bageritz-Skulptur. Neue Bilder – Alte Geschaefte. Und (darauf komme ich noch zurück und da steckt drin, was ich zuvor behauptete): Der Ausflug nach Bageritz mit Abstecher nach Baselitz.

Bageritz: 1. Große Rektospektive ( hier kündigt sich der Witz an, der banale, perfide, gemeine, agressive Witz, den dann auch die Schimpf- und ALDI-Bilder haben). The Name Dropping Number. Dekor – professionelle Image-Verwahrlosung. Ehrenstraße 23 – incl. 23 Special Guests. Ausstellung auf 4 Etagen begehbar. Geschäftsstelle des Amtsgerichts / Performance. Die Aufrichtigkeit des Künstlers am Ende des 20. Jhdts. The b – AGE – ritz – (transzendentale Migraene / Normalitas Egalitas). Deutsche Erläuterung im Köln-Format. Bageritz – Die Allgemeine Schwundquote… und so fort und so vieles mehr, man merkt, wo´s lang geht, und fast zum Schluß: „Treasure“ (der Laden in der Brüsseler Straße, der jetzt verschwunden ist) zeigt STOLEN OBJECTS mit dem Vermerk: „Idee gestohlen von Timm Ulrichs“. Alle Plakate seiner Ausstellungen und das sind immer Plakataktionen – fordern mit ihren Logos Werk & Haltung, durchaus ironisch. Diese Figur hat Timm Ulrichs nicht gedacht. Konnte er nicht, weil sie sich von der Wirklichkeit schreiben lässt und dafür ist er ja zu früh gekommen, Kippenberger schon, der dem Bageritz ja nahe steht – oh, Gott, wer wem, der große Kippenberger, der würfe ihm für jede geklaute Idee höchstens einen geknüllten Papiertiger hinterher. Und doch sind es ja keine geklauten Ideen, weil ja leicht zu beweisen ist, dass manches eben zusammengehört. Ein Artikel über „ART BRUT“ fällt mir in die Hände, ich schreibe ab, um aufs Thema, wer klaut von wem anzuwenden, was ich bei Michel Thévoz in seinem Artikel „Art Brut or a Ruminative Aesthetic“ finde, in dem er André Malraux zitiert: „No artist goes directly from his childhood drawings to his artworks. Artist´s don´t come from their childhood, but from their confrontation with other artistic individuals“. Das spricht ja einen der bezeichnenden Unterschiede zwischen den Streithähnen an, der mir ja nur wichtig ist, weil ich eine Haltung daran ermessen kann, dass nämlich der eine wie Reinhold Messner auf Erstbesteigungen beharrt und der andere eben durch Angleichung und Wiederholung zur Aussage kommt. Das Wort Genie ist ja mittlerweile Bestandteil der Sprache der Fachidiotie oder der Sportsprache, worauf sich z.B. ein Kippenberger-Witz beziehen kann. Ich ziehe mir das „Gorbatschow-Sylt-Hemd“ von Bageritz mit der gelungenen Inselkontur auf Gorbis Stirn an und springe ein wenig hinaus, mich zu ertüchtigen. So kommt ein kleiner Witz unter die Leute, der so herrlich aktuell ist, seitdem Gorbi tatsächlich bald zum auf Sylt tagenden Club der freundlichen alten Herren gehört.

Und auch die Aussage. „Wer ficken will, muss freundlich sein“ lässt sich geschmacklos sicher immer wieder breit auf der Brust behaupten. Der Mut zum hässlichen ist nicht leicht zu finden. Nicht so leicht ist es jedenfalls damit zu höheren Weihen zu gelangen. Die gibt’s ja preiswerter, wenn alle das Gleiche (ja auch die Gleichheit) aussparen. Und wer will in der Kunstszene, im Paradies für Geweihträger, nicht gerne hoch geweiht sein. Da hat´s ein Geschmackloser allemal schwer, der zeigefreudig gegen die soliden Übereinkünfte verstößt und so ist der dabei entstehende Witz und Aberwitz zum großen Teil auch getragen von einer gewissen Wut und Attacke auf die renommierte Künstlerinnung: auf die Art und Weise wie zuallererst in eigener Sache Reklame gemacht wird. Bageritz hat zum Thema einer Aktion während der ART COLOGNE ´90 gemacht, was die Anrufbeantworter verraten, es ist die „NAME DROPPING NUMBER“, auf die ihn Jürgen Klaukes Anrufbeantworter brachte, der sprach: „Jay Kay. Ich war eine Dose. Verstecken Sie sich nach dem Signalton!“. Und so rief Bageritz herum und nahm auf von den angewählten Bändern von General Idea bis Salomé, Bänder, die dann auf der Messe direkt hörbar waren oder auch bei bestimmten Galerien abgerufen werden konnten.

Die Aktion beschreibt wie auch der Titel und der Gedanke „Der Ausflug nach Bageritz mit Abstecher nach Baselitz“ den eigenen Antrieb, der durchkreuzen will, Positionen in Bewegung bringen will und andere Antriebe transparent machen will, sich gleichsam aus dem schon Bewegten nährend. Bageritz lagert sich aus und bewohnt fiktiv den Ort BAGERITZ, wie Baselitz sich einst nach einem Ort nannte, den er als Georg Kern in DEUTSCH-BASELITZ bewohnt hatte. Der leibhaftige Bageritz schlüpft in diesen Prozess, um eine Geschichte zu erzählen.
Solche Geschichten sind aber märchenhaft oder die Figur ist es, die so etwas so erzählt.

Die Text-Bild Arbeit von Bageritz ist immer eine den Witz suchende, die Umstände angreifende Selber-Erfindung, die aber im Veröffentlichen Fenster aufstößt und uns mehr als die ganze dreckelige Kunst- und Gewerbelandschaft erblicken lässt. An der Betriebssprache, die die Kunstvermittlung absondert, kann die echte Person, die, die sie spricht, ermittelt werden. In der Pause der Endloskassette für die „Name-Dropping-Number-Aktion“ trägt Benedikt Taschen wie auf der Warteschleife seines Firmenanrufbeantworters seine Version des „Quoi ca sert lámour“ der Edith Piaf vor. Wenn der Witz sich im Gegenstand der Betrachtung selbst findet – in seiner Benennung – erhöht es des Künstlers Entzücken. Dafür dürften wir in diesem Buch neue Beispiele finden.

In den Objektbildern mischt sich fremde und eigene Autorenschaft: die direkte Abbildung eines aus der Wirklichkeit gestohlenen Gegenstandes (entwendete Poesie) bezeugt im Kontext einen Impuls wie wir ihn auch bei Art Brut Autoren finden: „Art Brut authors can be explained by a secret jubilation at going against all that is sacrosanct to our culture compulsory obsolescence“. Mit dem Wort im Bild, mit der direkten Ansprache, macht uns der Verfasser dieses Bildes als Pamphlet zum Mitverschwörer gegen die Macht der für sakrosankt erklärten Dinge. „Ansprechende Bilder“ war dann auch der Artikel über eine Ausstellung bei Maximilian Krips in hübscher Doppeldeutigkeit überschrieben. Die Ausstellung hatte drei Titel, die drei Werkgruppen benannten: „Stolen Objects“, „Die ALDI & Co. Porträts“ und „Flowers Are Telling You“. Der zuletzt genannte Arbeitsbereich zeigte ein Bildformat, das mit der Aufforderung „SPRICH MIT MIR“ beschrieben war und mit einer Konsole am unteren Rand eine Topfpflanze trug mit einem Schimpfwort als Schriftzug darunter. Objektbilder mit Topfpflanzen nannte sich diese Serie mit nicht gerade freundlichen Angriffen auf den Betrachter.

Die freundliche Anmache, mit der der Vertreter seiner Kunstwerke auftritt, (aber das wissen wir ja von Vertretern: wenn sie erst in der Tür sind zeigen sie Kralle und lassen nicht mehr los) verwandelt sich in der Arbeit zur knallharten Aufforderung, sich vom Gegenstand der Persiflage zu trennen. So liest sich so ein Bild wie ein 3D-Gedicht. Hier, das muss ich zum Schluss noch einmal sagen, ignoriert Ulrichs doch einiges an Weiterentwicklung in der Bild-Wort-Dichtung, die den Überdruss an einer übermächtigen Warenwelt mitschreibt.

© Hans-Werner Bott / Galerist / Kurator / Ausstellungsorganisator / 1994

ALWAYS™ ALLDAYS™ / PLUS UND ALDI – DAS WERK UND SEINE PRAESENTATION

von
JÜRGEN RAAP

„Kunst ist Werbung“, meint Ralph Bageritz zu seinem vorliegenden Buchprojekt, das Ausstellungskatalog und Führer durch eine der bekanntesten Einkaufsstraßen zugleich ist – Dokumentation künstlerischen Schaffens wie Auflistung einer urbanen Topographie. Diese wird hiermit zu einem „Begehungsplan“ verdichtet, und die Kunst von Ralph Bageritz ist dazu nicht nur Anlass, sondern auch Orientierungssignal.

Seit der Pop Art hat es immer wieder enge Verbindungen und gegenseitige Inspirationen zwischen der Welt der Kunst und jener der Werbung bzw. der Reklame gegeben, hat Kunst weitaus mehr als früher Eingang in die Geschäftswelt gefunden, haben sich auch die Grenzen zwischen klassischer akademischer Kunst und Design mehr und mehr verwischt. Ralph Bageritz gehört jener jüngeren Künstlergeneration an, die sich bewusst zur Alltagskultur bekennt, diese aufgreift, reflektiert und dabei auch kritisch befragt. Mit „Stolen Objects – gestohlenen Objekten“ (1973-94) wie Absperrpollern oder der Beute bewusst inszenierter Kaufhausdiebstähle offenbarte er sich ironisch als „100% iges Kind der kapitalistischen Gesellschaft“ mit ihren Dirigismen, ihren Wertvorstellungen, ihren Verlockungen und ihrer Massenkultur als alleinige Kulisse der Lebensrealität. Collage-montagehaft flossen Elemente des heute noch rudimentär spürbaren DDR-Alltags als ästhetischer Gegenpol in seine Bildwelt ein, als er 1989 einen „Ausflug nach Bageritz mit Abstecher nach Baselitz“ unternommen hatte. Und in greller Buntheit bot er uns auch eine Serie mit einem clownesk lachenden Hitler dar – nicht, um den Dämon zu entdämonisieren oder zynischerweise mit Schrecken Scherz zu treiben. Vielmehr zeigt er in seinen Bild- und Objektzyklen Schnittstellen auf, wo die Inhaltsleere demokratischer Wahlkampfwerbung jener einer totalitären phrasenhafter Propaganda nahekommen könnte, wo ökologisch sinnloser und volkswirtschaftlich bedenklicher Überfluss an Konsumgütern anderweitige Versorgungsmängel focussiert: gäbe es keinen Überfluss, würden diejenigen, die nicht daran teilhaben, den Mangel auch nicht als solchen empfinden. Bedürfnisse müssen nicht (durch die Werbung) geweckt werden, wenn Sehnsüchte bereits vorhanden sind. Bageritz reagiert auf Zeitphänomene, doch seine „R-läuterungen im Hyper-Format“ erhalten nicht immer und unbedingt einen moralischen Appell.

„Kunst ist generell Werbung – und zwar immer nur fuer sich selbst“, lautete ein Ausstellungstitel (1989). So sehr Kunst auch gesellschaftsbezogen ist und sein sollte, so sehr sie auch außer-künstlerische Funktionen zu übernehmen vermag, so sehr sind dennoch gewisse Wirkungsmöglichkeiten ihrerseits begrenzt. Das weiß Bageritz genau, aber das mündet eben nicht in das Diktum „Kunst ist Kunst und Werbung ist Werbung“. Auch wenn Kunst im Museum eine sakral anmutende Hängung erfährt, Abstand eingefordert wird, so ist sie dennoch Teil unseres Alltags. Manchmal kann sie auch nur im Alltag direkt ihre Intensität entfalten, weshalb Ralph Bageritz in den letzten 11 Jahren immer wieder un-museale Orte für Ausstellungen und Aktionen ausgewählt hat: leerstehende Ladenlokale etwa und auch den öffentlichen Straßenraum. Sein unmittelbares Lebens- und Arbeitsumfeld in und an der Ehrenstraße war und ist dabei immer wieder Kulminationspunkt solcher Verpflechtungen gewesen, künstlerischer Tat- und Präsentationsort wie zum Beispiel zu den Galerie-Premieren im Frühjahr 1987 eine Ausstellung in der Wohnung seines Nachbarn: der sonst abgeschlossene, private, gar intime Ort wurde als Schauraum für einige Tage öffentlich gemacht. Wenn nunmehr die Geschäfte in seiner Nachbarschaft zum Ausstellungsort werden, ist dies als Fortsetzung der eben skizzierten Präsentationstrategie durchaus stimmig – und dabei wird nicht einfach nur eine Lebensnähe für die Kunst eingefordert, sondern eine Deckungsgleichheit zwischen Wahrnehmung, Inspiration, bildnerischer Umsetzung und deren Kommunizierbarkeit geboten, ohne dass es dabei um eine originelle Dekoration ginge, was normalerweise das Wesen der Schaufenstergestaltung ausmacht. Indem in einer retrospektiven Weise auch ältere Werkbeispiele ausgestellt werden, bei denen eben nicht die Eindrücke exotischer Regionen die Bildinhalte bestimmen, sondern die Ikonologie auf einer gemeinsamen Kenntnis und Unmittelbarkeit beruht, ist für den Künstler, die Geschäftsleute, die Kunden und die zufälligen Flaneure eine Teilhaberschaft bzw. potenzielle Teilnahme am Gezeigten garantiert. Dies hat nicht unbedingt etwas mit dem „erweiterten Kunstbegriff“ von Joseph Beuys zu tun, jedoch sehr viel mit der Zertrümmerung der Elfenbeintürme, in denen die Kunst gerade in diesem Jahrhundert allzu lange verharrte. Kein Erklärungsmodell ist praktikabel, wenn es lebensfern ist, und dies gilt ebenfalls für die Weltentwürfe in der Kunst. In den letzten dreißig Jahren gab es daher immer wieder Kunstströmungen, die der ästhetischen Beliebigkeit auswichen und sich an direkte Situationen und konkrete Orte banden.

Die Ortsbezogenheit zu suchen, heißt auch, sich potenziellen Reibungsflächen zu stellen,

bedeutet die unverhoffte Konfrontation mit jedwedem Publikum und nicht nur mit Kunstkennern. Bageritz sucht die Öffentlichkeit eines Marktes, auf dem auch antike Philosophen ihre Ideen vortrugen, wo Akademien bekanntlich nicht elitär abgeschottet waren wie in späteren Epochen. Da schon Beuys der Ansicht war, heutzutage fänden die Mysterien auf dem Hauptbahnhof statt, leistet Kunst auf der Straße bzw. in der Straße Öffentlichkeitsarbeit in mehrfachem Wortsinn. Sie wird für eine begrenzte Zeitdauer zu einem Fixpunkt im Straßenbild und von ihren Inhalten her dann ebenso Gegenbild zu den anderen Wahrnehmungsobjekten wie Laden- und Verkehrsschilder, Preisschilder, Fensterauslagen, Kinoplakaten, Graffiti etc. Der Straßenraum beinhaltet verschiedene urbane Funktionen, er bietet Versorgung und Muße, Information und Verbindungen zu anderen Orten, fordert zur Mobilität auf und ist feste Lokalität zugleich, und er kann innerhalb dieses multi-strukturellen Systemzusammenhanges dann auch Kunstraum sein. Es sind nicht mehrere Ausstellungsorte, die es bei diesem Projekt abzuwandern gilt, sondern es ist eine einzige auf mehrere Orte verteilte Ausstellungsinszenierung, die sich in jene Inszenierung einfügt, die innenarchitektonisch, atmosphärisch und von der Präsentation des Warenbestandes her die Geschäfte ohnehin bieten.

Andere Straßen und Stadtviertel sind Aufgrund der Stadtplanungspolitik der Nachkriegszeit monostrukturell angelegt: hier eine Konzentration von Banken und Versicherungen, wo nach Büroschluß das Leben verödet und Mitscherlichs These von der „Unwirtlichkeit der Städte“ immer noch Gültigkeit hat, dort reine Wohn- und Vergnügungsviertel. Mit ihrer Mischung aus Geschäftsleben und Wohnen, Gastronomie und anderer Freizeitkultur (Kino, Fitnesscenter) ist die Ehrenstraße hingegen Modell für postmoderne Lebendigkeit und sozio-kulturelle Intaktheit. „Milieu“ bedeutet hier tatsächlich noch „Mitte“ im eigentlichen Wortsinn, und von diesem Mittelpunkt her gewinnt Ralph Bageritz sein Inspirationsfeld, wo es gilt, Alltäglichkeiten bildnerisch zu verwerten.
© Jürgen Raap / Kunstkritiker / Katalogtext „Bageritz – 11 Jahre Ehrenstraße & Umgebung“ / 1994

EAST / WEST SIDE STORY

von
NORBERT MESSLER

Entschuldigen Sie das Bild „Gudrun Ensslin“ (1989)! Der Namenszug der gefürchteten bundesdeutschenTerroristin von einst ziert friedlich, in grün-güldenen Lettern und nicht ohne eine gewisse verführerische Eleganz die Leinwand. Nicht gerade ein Name für den normal-bürgerlichen Hausgebrauch, könnte man denken. Und dennoch enthält er, rein optisch, genau jene entschärfte Süßlichkeit, die dem bürgerlichen Geschmack entspricht. Die Ornamentalschrift lässt unweigerlich an die Typologie auf billigen Pralinenschachteln denken. Auch sonst geht das kreuzförmig aufgebaute Bild wahrlich an den guten Geschmack. „BOUNTY“, der genussreiche Schokoriegel, und „L´OREAL“, die gute Kosmetikmarke mit der aktuellen „MONDRIAN-Werbung“, füllen, jeweils in Originaltypologie, einen rechteckigen Bildteil. Zwei weitere, ebenfalls rechteckige Bildteile tragen die Namen eines bundesdeutschen, mittlerweile vorbestraften, dennoch amtierenden FDP-Politikers, Otto Graf LAMBSDORFF, und den einer eher als mittelmäßig zu bezeichnenden Größe aus der deutschen Unterhaltungsindustrie, Margarethe SCHREINEMAKERS. Der Rest des Bildes ist offensichtlich photographischen Ursprungs und dokumentiert Szenen aus bescheidenen Ostdeutschen Landen: hier ein ausrangierter Herd, dort ein weggestellter Grill, dann ein Eimer an einer Tür und ein gefüllter Abfallkorb. Die Anordnung dieser Gegenstände, ihre Disposition, verrät künstlerisches Kalkül, auch wenn die photographierten Situationen so vom Künstler vorgefunden waren. Indes, die Namen, sie beziehen sich ohne jede Differenzierung auf Elemente des Schreckens oder der Unterhaltung, auf Politik und Konsum; sie gehen mit den Photos in einer ornamentgeschmückten Motivverschmelzung auf. Diese, so stellt sich alsbald heraus, ist im wahrsten Sinne grenzüberschreitend, Zeitgeschichte dokumentierend.

Denn von allen merkwürdigen Illusionen, die in den Köpfen der Deutschen spuken, war bislang die beharrlichste der Glaube an die nationale Wiedervereinigung. Scheinbar ist es ja nun so weit. Und schon manch einer aus der bundesdeutschen Kunst- und Kulturszene hat sie vorausgesehen beispielsweise Hans Magnus Enzensberger (Ach Europa!, 1987), der sie gleichzeitig fürchtete und die deutsch-deutsche Geschichte als durch und durch verlogen, die deutsch-deutsche Harmonie nach Abriss der Mauer als reine Fiktion beschrieben hat. Unterdessen hat die Wirklichkeit ihre eigene prophetisierte Ästhetisierung durch die Kunst, durch die Literatur wie ebenso durch die Bildende Kunst, eingeholt. Stellenweise hat sie sie sogar überholt, denkt man etwa an die eingängigen „WIRTSCHAFTSWERTE“ von Joseph Beuys aus dem Jahre 1980, die sich noch mir der Formulierung eines neuen Kapital- und Wirtschaftsbegriffes aufgrund der deutschen Trennung auseinandersetzten. – Vielerorts hatte, bzw. hat in der bundesdeutschen Nachkriegszeit, ob bei Penck, Kippenberger, Dahn, Lüpertz oder Immendorf diese Thematik in unterschiedlichen Schattierungen ihr Vorkommen. In dieser Hinsicht war die westdeutsche Kunst stets expansionswillig. Sucht man daher nach Erscheinungsbildern der deutsch-deutschen Gegenwart, d.h. Nach einer vorab-Ästhetisierung der einheitsschwangeren Wirklichkeit von heute, so wird man fündig.

Hier nun sind die tomographischen Bilder des 1958 geborenen Kölner Künstlers Ralph Bageritz kontextuell einzuordnen. Sie muten an wie INSTANT HISTORY PAINTINGS, und doch photographierte und malte er sie zu einer Zeit, als Honecker noch in Amt und Würden war und Kohl noch keine deutsch-deutschen Sprachspiele spielte. Zum Teil handelt es sich daher um politische, zeitpolitische Aufbrüche reiner Phantasie, wenn die inhaltliche Umwandlung von westdeutschen Eigennamen (inklusive des eigenen Namens des Künstlers, der sich von einem Ortsnamen in der DDR herleitet) und von Produktnamen in einem Hang zum bürgerlich-kitschigen Werbeornament und mit Photonotizen aus der DDR aufgefangen wird. Zum anderen handelt es sich bei den Bildern von Ralph Bageritz um eine jugendliche Suche eines westdeutschen Künstlers nach den eigenen – deutsch-deutschen – Wurzeln. Denn als Photodokumente, collagiert und übermalt, vergrößert und verfremdet, sind in erster Linie die Ergebnisse eines Ausfluges des Künstlers Bageritz, den er 1988 nach Bageritz, einem Ort im DDR-Bezirk Halle unternahm, und zwar mit einem Abstecher nach Baselitz, Deutschbaselitz, um genau zu sein, im Bezirk Dresden, sozusagen in Reflexion über Kunst und den Maler Georg Baselitz.

Bageritz betreibt somit familiäre und künstlerische Ahnenforschung. Er reist als subkultureller West-Künstler und verbindet auf seiner Reise in die DDR individuelle, private Ebenen mit politisch-gesellschaftlichen. Innere Reflexion und offene Aktion beleuchten kunst- und kulturgeschichtliche Zusammenhänge, schmücken sie aus mit zeit- und gesellschaftlichen Faktoren, mit Strukturen des Marktes, der Werbung, der Unterhaltung, der Kunst, Außenwelt und Innenwelt, Privates und gesellschaftlich-öffentliches zeigen sich in einem Picabia/Polkeartigen bildlichen Schichtaufnahmeverfahren, im Nebeneinander und in Überlagerungen von unterschiedlichen Bildebenen. Sie sind die Bestandteile einer Vereinigung, die letztlich den Gegensatz sucht, um zu vereinheitlichen. Eine kathartische „Deutsche ® -läuterung“ ist das Ergebnis, in der sozusagen das Leben des Künstlers und die Politik, die Gesellschaft und die Alltagskultur seiner Zeit in der Kunst aufgehen und in der bürgerliche Vorstellungen mit Themen ost- und westdeutscher Alltagskulturen verschmelzen. Produkte oder Namen, die sich mit dem Westen verbinden und die drüben in der DDR Symbole ersehnten Lebensgefühls sind, verlaufen hier, vom Künstler mit einem fatalen Qualitätssprung ausgestattet, in der Provokation, in der Ironie, im Sarkasmus.

Sarkasmus, Ironie und ein Sinn für ausgefallene Demonstrativausstellungen, etwa in einem Kölner Sex-Shop oder im „Star-Club“ auf der Großen Freiheit in Hamburg, bilden seit je her wichtige Bestandteile in der Kunst von Ralph Bageritz. Er selbst bezeichnet sich als „Oeffentlichkeitsarbeiter“, als „Erfinder“, als „® -Finder“. Sein Studium, unter anderem bei dem Objektkünstler Daniel Spoerri, brachte ihn konzeptuell in die Nähe der neodadaistischen Identifikation von Kunst und Leben, ließ ihn Themen und Materialien aus der Alltagskultur suchen, so etwa aus den Medien, aus der Politik, aber auch aus der Politik selbst. Bageritz erweitert mit seiner Kunst den Bewusstseinszustand seiner Betrachter im allgemeinen und hier, „auf der Reise nach Bageritz“, gezielt den Bewusstseinszustand der vermeintlichen deutsch-deutschen Personen-, Sprach- und Bildergemeinschaft.

Bildtitel und Wortspiele sind von zentraler Bedeutung. „Betroffenheit, Teil 2“ (1989) etwa, unter anderem ein Begriff für den Empfindungsmesser bei der Betrachtung von Kunstwerken, führt den Betrachter in Tristesse und Einsamkeit und wird begleitet von einem Hauch jener Verlorenheit, wie sie vom unvermeidlichen, hilflos langsam fahrenden Trabi auf bundesdeutschen Autobahnen heutzutage gang und gäbe geworden ist. So sind Ralph Bageritz´ Bilder nur zum Teil subversive Dokumente eines einheitsfixierten Ost-/West-Ding-, Werte- und Bildzusammenhanges. Ihr wesentlicher Bestandteil ist der Gebrauch von Images an sich, vorgeführt am Beispiel einer deutsch-deutschen vereinheitlichenden Imageverelendung. Klischees, die die westliche Werbung vermittelt, Produktenamen von westlichen Erzeugnissen, Namen von westlichen Medienstars oder von Tabu-Personen wie von Terroristen oder Sexualmördern, verbinden sich mit DDR-Photoskizzen zu Images östlicher/westlicher kulturbezogener Relativität.

Die Schrittmacher westdeutscher Konsumgesellschaft, aus der Welt der Werbung, der Politik, der Unterhaltungsindustrie, prallen unvermittelt auf Szenen des kleinstädtischen Ostdeutschland mit seinen von uns als rückständig eingestuften ländlichen Lebensformen. Geschmacksmuster werden in Bild und Schrift aufgesaugt, Trivialmythen unseres Vorsprunges im Wohlstand werden hinterfragt. Die photographierten Situationen, Menschen oder Dinge, die den Kunstzusammenhang suchen, werden zu austauschbaren Wirklichkeitsversatzstücken. Gleichsetzungen und aufeinander bezogene Wechselbeziehungen bedingen hier gesamtdeutsche Erfahrungen. Diese wiederum sind bildlich so gestaltet, dass nicht der eigentliche Charakter dieser Erfahrungen präsentiert wird, sondern dass die optische Vermittlung von Images selbst – Ost und West – als dürftige, fragile, immaterielle Bestandsaufnahme entlarvt wird.

© Norbert Messler / Kunstkritiker / Rezension / Kunstmagazin „ARTFORUM“ / New York / 1990

PORTRAIT RALPH BAGERITZ

von
CARL-FRIEDRICH SCHRÖER

TRISTESSE UND SCHÖNER SCHEIN – Photos aus dem DDR-Alltag übermalt der Kölner Ralph Bageritz mit goldglänzenden Namen von West-Prominenten, protzigen Markenzeichen und griffigen Werbesignets; mit ihrem vordergründigen Pathos entlarven die Arbeiten die Scheinwelt der westlichen Konsumgesellschaft.

„Alles so schön bunt hier“, röhrt die DDR-Rocksängerin Nina Hagen nach ihrer Übersiedlung in den Westen. „Alles grau“, lautet das stereotypische Urteil von Westreisenden über die DDR. Das Bunte und das Graue links und rechts der deutsch-deutschen Grenze vereint der junge Kölner Künstler Ralph Bageritz in der Werkserie „Deutsche ® – Laeuterung“.

Auf die Idee dazu kam er durch seine Namensgleichheit mit dem 200-Seelen-Dorf Bageritz in Sachsen, in der Gegend zwischen Halle und Leipzig, wo fast alle Ortsnamen mit -itz oder -witz enden und die Luft am schwärzesten ist. Deutschbaselitz, 140 Kilometer südöstlich, ist unter Kunstkennern bekannt. Das verdankt der Ort nicht seiner Lage, sondern einem berühmten Sohn: Georg Baselitz, der bundesdeutsche Malerstar mit bürgerlichem Namen Kern, nannte sich nach seinem Geburtsort.

Als Ralph Bageritz erfuhr, dass sich sein Familienname vom DDR-Ort Bageritz ableitet, unternahm er im Sommer 1988 eine Reise ins Land der Vorfahren, das seine Eltern bereits 1950 verlassen hatten. Von seinem „Ausflug nach Bageritz mit Abstecher nach Baselitz“ brachte der 1958 geborene Schüler von Daniel Spoerri an der Kölner Fachhochschule für Kunst & Design einen Stapel selbst aufgenommener Photos mit: Schnappschüsse aus dem DDR-Alltag mit Schaufensterauslagen, Hauseingängen, Hinterhöfen samt Bewohnern und dem allgegenwärtigen „Trabbi“.

Vergrößerungen dieser Dokumente bilden die Grundlage zu seiner neuen, autobiographisch wie politisch motivierten Serie. Um die DDR-Motive herum malt Bageritz Signets westlicher Konsum- und Zeitgeist-Artikel in der vertrauten Original-Typographie, ergänzt durch Namen von Größen aus Politik und Medien. Dazu benutzt er Schriftzüge, die aus der Werbung bekannt sind, und stempelt so die Prominenten ebenfalls zu Markenartikeln.

Der Name des FDP-Vorsitzenden Otto Graf Lambsdorff steht in diesem deutsch-deutschen Bilderraster neben dem des Haarkosmetik-Herstellers „L‘Oréal“, des Schoko-Riegels „Bounty“ und der TV-Ulknudel Margarethe Schreinemakers. Oder: Das Markenzeichen der „Tempo“-Taschentücher trifft auf den Namen des Terroristen Andreas Baader, die adrette „Tagesthemen“-Sprecherin Dagmar Berghoff und die Seuche Aids werden auf einem Blatt genannt. „Jacobs“-Kaffee rangiert neben dem Republikaner-Führer Franz Schönhuber, Freya Barschel, Witwe des ehemaligen Kieler Ministerpräsidenten, neben der Youngster-Modemarke „Esprit“.

Quer über diese in Rechtecke geteilten Bildflächen – die westdeutschen glänzend typographisch aufgemotzt, die ostdeutschen eher schäbig – legt Bageritz stets einen prachtvollen Schriftzug: Goldumrahmt prangt etwa über der Kulisse eines zerbröckelnden klassizistischen Bauwerks der Name „Ensslin“ – als verkörpere die tote Terroristin Aufschwung und Abenteuer, Eleganz und Genuss. Ernst-Dieter Lueg, Leiter des Bonner ARD-Büros, ist mit kunstvoll verschlungenen Lettern vertreten; in seinem Namen scheint das ganze Geheimnis des westlichen Wirtschaftswunders verborgen zu sein. Auch die griffige Leerformel „Betroffenheit“ steht als protziges Signet über dem grauen DDR-Alltag.

Dabei betreibt Bageritz keine einseitige Kritik des real existierenden Sozialismus. Im Gegenteil: Die fetten Reklamesprüche enthüllen mit ihrem vordergründigen Pathos die Scheinwelt der westlichen Konsumgesellschaft. Im Kontrast zu den Bildern aus der zwar ärmlichen, dafür aber sinnlich greifbaren, menschlich anrührenden DDR-Provinz wirken die aufgeblasenen Schriftzüge wie stumme, austauschbare Surrogate, die dem Konsumenten als Lebensinhalt vorgaukeln, was die werbende Wirtschaft absetzen will.

Indem Bageritz vormacht, wie leicht sich der Name einer Terroristin zu einem marktgerechten Produktnamen umstylen lässt, warnt er vor der Verlockung zu glauben, es sei tatsächlich alles Gold, was glänzt.

® Carl-Friedrich Schröer / Kunstkritiker / Magazin „art“ Nr. 4 / „Tristesse und schöner Schein“ / Rezension der Ausstellung „Der Ausflug nach Bageritz mit Abstecher nach Baselitz“ / Galerie Ernesto+Krips / Köln / 1990 / Eiskellerberg TV – Programm für Kunst / Düsseldorf / 2021